19.09.2013
Mutiertes Gen unterbricht Schmerzweiterleitung
In einem vielbeachteten Fachartikel beschreiben Jenaer Wissenschaftler eine Veränderung im Gen SCN11A, die durch eine Überaktivität in Natriumkanälen zur Schmerzunempfindlichkeit führt.
(UKJ/vdG) Wie so oft wird die wissenschaftliche Neugier der Jenaer Humangenetiker durch eine ungewöhnliche Erkrankung geweckt. Dieses Mal aber ist es keine Familie, in der sich seltene Symptome auffällig häufen. Ein kleines Mädchen empfindet keine Schmerzen, obwohl beide Eltern völlig gesund sind. Was zunächst nicht nach einer Erkrankung klingt, ist eine schwerwiegende funktionelle Störung: Die Schmerzfreiheit führt zu unbemerkten, teilweise selbst verursachten Hautverletzungen und Knochenbrüchen, die wegen der fehlenden Schmerzwarnung auch schlecht heilen.
Die Wissenschaftler analysierten das gesamte Exom des Mädchens und seiner Eltern, also alle Abschnitte des Genoms, die Proteine verschlüsseln. Beim Vergleich konnten sie eine Mutation im Gen SCN11A identifizieren. „Die Mutation war nur bei dem Kind vorhanden, muss also spontan entstanden sein“, so PD Dr. Ingo Kurth vom Institut für Humangenetik am Universitätsklinikum Jena und Leiter der Studie. Bei der Untersuchung weiterer Patienten mit angeborenen Schmerzempfindungsstörungen stießen die Humangenetiker in Zusammenarbeit mit Kollegen aus dem In- und Ausland auf exakt dieselbe Mutation bei einem schwedischen Patienten. Beide Patienten hatten eine sehr ähnliche Krankengeschichte - neben der fehlenden Schmerzwahrnehmung litten beide an übermäßigem Schwitzen, leichter Muskelschwäche und Störungen der Darmtätigkeit.
Gemeinsam mit Biophysikern des Zentrums für Molekulare Biomedizin der Jenaer Uni rekonstruierten die Wissenschaftler den Mechanismus der Erkrankung: Das Gen SCN11A enthält die Information für den Natriumkanal NaV1.9, der bei der Schmerzweiterleitung zum Zentralnervensystem eine entscheidende Rolle spielt. „Die Mutation steigert die Aktivität des NaV1.9-Kanals, was paradoxerweise die Ausbildung von Aktionspotentialen und in der Folge die Signalübertragung ins Gehirn eingeschränkt.“, so Dr. Enrico Leipold, Erstautor der Studie.
Diesen Ablauf konnten die Wissenschaftler im Tiermodell nachweisen. Sie schleusten die entsprechende Mutation in das Genom von Mäusen ein und verglichen das Schmerzempfinden dieser Tiere mit dem von Kontrollmäusen. Die Analyse zeigte im Rahmen einer Zusammenarbeit mit dem Institut für Neurophysiologie des UKJ eine eingeschränkte Schmerzempfindung der genveränderten Mäuse sowie ähnliche Verletzungsmuster wie bei den Patienten. „Allerdings war das Ausmaß der Unempfindlichkeit gegenüber Schmerzen bei den Mäusen weit geringer als bei den Menschen mit verändertem SCN11A-Gen“, betont Ingo Kurth.
Der Zusammenhang zwischen der angeborenen Unfähigkeit, Schmerz zu empfinden, und einer Fehlfunktion von Natriumkanälen ist schon in früheren Untersuchungen belegt worden. Veränderungen in einem anderen als dem hier beschriebenen Kanal führten dort aber zu einer verringerten Kanalaktivität. Dass auch die erhöhte Aktivität eines Natriumkanals die Schmerzwahrnehmung hemmen kann, ist neu, und ermöglicht weitere Einblicke in die Funktionsweise der Schmerzempfindung. „Unser Ergebnis macht den SCN11A-Kanal auch als Angriffsziel für neue Schmerzmedikamente interessant“, so Ingo Kurth, „dazu müssten wir ihn aber selektiv und zielgerichtet beeinflussen können und das kann sich außerordentlich schwierig gestalten.“
Originalliteratur:
Leipold E, et al. A de novo gain-of-function mutation in SCN11A causes loss of pain perception, Nature Genetics, 2013, doi:10.1038/ng.2767