16.04.2014
Die Jenaer Psychiatrie im 20. Jahrhundert
Historiker der Uni Jena wollen eine Gesellschaftsgeschichte der Jenaer Psychiatrie schreiben
(Jena/FSU) Berühmte Ärzte und berühmte Patienten gibt es in der Geschichte der Jenaer Psychiatrie. So wurde der Philosoph Friedrich Nietzsche von Otto Binswanger behandelt. Dessen Nachfolger im Amt des Klinikdirektors war Hans Berger, der Erfinder des Elektroenzephalogramms. Doch nun rücken weniger bekannte Mediziner und die nichtprominenten Patienten der Psychiatrischen Klinik in den Fokus einer Gruppe von Historikern der Universität Jena.
Ein dreiköpfiges Team um den Projektleiter Dr. Tobias Freimüller wird die Geschichte der Jenaer Psychiatrie im 20. Jahrhundert erforschen. Der Historiker sagt, es gehe dabei nicht vorrangig um Wissenschafts- und Medizin- geschichte: „Unser Anliegen ist es, die Geschichte der Jenaer Psychiatrie als Gesellschafts- geschichte zu schreiben.“ Erforscht werden sollen nicht nur die Klinik und ihr Zusammenwirken mit Institutionen aus Politik, Wissenschaft und Gesundheits- wesen, sondern auch das medizinische Personal und in besonderer Weise die Patienten.
Kristin Tolk, die in Leipzig Geschichte studiert und in Jena ihren Master in „Geschichte und Politik des 20. Jahrhunderts“ gemacht hat, wird sich auf die Zeit vor 1945 konzentrieren. Martin Kiechle hat in Jena Geschichte studiert und seine Abschlussarbeit über die Erforschung der NS-„Euthanasie“ geschrieben. Sein Betätigungsfeld wird die Geschichte der Psychiatrie in der DDR sein.
„Unser Projekt soll über Zäsuren wie 1945 hinausführen“, sagt Freimüller. Interessant seien Kontinuitäten und Brüche, etwa bei Behandlungsmethoden oder dem Personal. Weitere offene Fragen betreffen die oft zitierten modischen Krankheitsbilder und dazu passende Therapien. Die Wissenschaftler der Universität Jena fragen danach, wie sich im 20. Jahrhundert der Umgang mit psychisch kranken und geistig behinderten Menschen verändert hat. Der bereits eingehender erforschte Zusammenhang zwischen Psychiatrie und Medizin-Verbrechen im Nationalsozialismus werde nicht ausgeblendet, soll jedoch in die Vor- und Nachgeschichte eingebettet werden. „Wir erhoffen uns Aufschlüsse über die Radikalisierungsprozesse vor 1933 und wollen auch die nicht minder bedeutsamen Entradikalisierungs-, Transformations- und Lernprozesse nach 1945 untersuchen“, sagt Dr. Freimüller.
Beim medizinischen Personal der Psychiatrie wollen Tobias Freimüller und sein Team vor allem nach den prägenden Figuren fragen. Dazu zählt u. a. Berthold Kihn, der als Nachfolger Hans Bergers zunächst die Landesheilanstalt Stadtroda geleitet hatte und später Richter am Erbgesundheitsgericht Jena wurde. Die Historiker wollen unterschiedlichste Quellen heranziehen, neben Akten der Psychiatrischen Klinik und aus staatlichen Archiven sollen auch Nachlässe ausgewertet werden.
Finanziell gefördert wird die Arbeit der Historiker durch die Jenaer Ernst-Abbe-Stiftung. Das Projekt wird über drei Jahre laufen, am Ende sollen drei Publikationen über die Jenaer Psychiatrie vorliegen. Unterstützt wird das Projekt durch einen wissenschaftlichen Beirat, dem vier Wissenschaftler angehören. Prof. Dr. Heinrich Sauer, der Direktor der Jenaer Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, gehört ebenso zum Beirat wie Prof. Dr. Cornelia Brink aus Freiburg, die ihre Habilitationsschrift über Psychiatriegeschichte verfasst hat. Außerdem arbeiten der Medizin-Historiker Prof. Dr. Florian Steger aus Halle und der Nestor der deutschen Psychiatrie-Geschichtsschreibung Prof. Dr. Dirk Blasius aus Essen im Beirat mit.