Jena (UKJ/as). Ein knappes halbes Jahr ist das Mädchen alt, als die Mutter zum ersten Mal ahnt, dass etwas nicht stimmt. „In Bauchlage hat sie ihren Kopf nicht mehr gehoben – dabei konnte sie das vorher schon.“ Beim Vergleich mit früheren Fotoaufnahmen stellt sie fest, dass sich die Kleine motorisch zurückentwickelt. „Doch alle in unserem Umfeld wollten uns beruhigen und sagten, dass es ganz normal ist und wir Geduld haben sollen.“ Als das Mädchen bei der U6-Untersuchung kurz vor dem ersten Geburtstag motorisch deutlich hinter Gleichaltrigen zurückliegt, wird die Familie an das Sozialpädiatrische Zentrum am Universitätsklinikum Jena (UKJ) überwiesen. Dieses ist Teil des Thüringer Kompetenzzentrums für seltene Erkrankungen am UKJ, das sich auf Erkrankungen spezialisiert hat, von denen weniger als einer von 2000 Menschen betroffen ist. Zum Tag der seltenen Erkrankungen am 28. Februar laden Prof. Ulrich Brandl, Direktor der Klinik für Neuropädiatrie, und Prof. Christian Hübner, Direktor des Instituts für Humangenetik, zu einem Symposium ein, bei dem Interessierte einen Einblick in die Arbeit des Zentrums mit seinen Strukturen und Angeboten erhalten.
Wenn Säuglingen das Trinken schwerfällt, ihre Muskulatur schlaff ist, die Reflexe vermindert sind und sie sich motorisch nicht weiterentwickeln, können dies Hinweise auf eine seltene Erbkrankheit sein. „Bei unserer kleinen Patientin bestätigte sich der Verdacht einer so genannten spinalen Muskelatrophie, kurz SMA“, so Oberarzt Dr. Ralf Husain von der Klinik für Neuropädiatrie am UKJ. Die SMA ist eine von etwa 8000 bisher bekannten seltenen Erkrankungen und tritt bei ungefähr einem von 10.000 Menschen auf. Den Nervenzellen der Betroffenen fehlt im Rückenmark ein wichtiges Eiweiß. Während die Kinder zunächst – je nach Schweregrad – einige Wochen, Monate oder auch Jahre ohne Beschwerden leben, sorgt der Erbschaden dafür, dass die Muskeln allmählich immer weiter verkümmern. Bei der schwersten Form überleben die Kinder ihr zweites Lebensjahr meist nicht, bei milderen Formen lernen sie nie zu laufen oder verlernen es wieder. „Bis vor kurzem konnten wir diesen Patienten keine ursächliche Therapie anbieten“, so Dr. Husain. Wirksame Medikamente gab es nicht.
Diese schwierige Situation hat sich seit dem vergangenen Jahr radikal verändert. Seit Juli 2017 ist ein neues Medikament zugelassen, das in den Zellkern eindringt und durch Bindung an eine defekte Stelle im Erbgut den Fehler korrigiert. Auf diese Weise kann der Körper intaktes Nerveneiweiß bilden, sodass die Muskeln wieder angesteuert werden. Insgesamt 14 Patienten im Kindes- und Jugendalter erhalten zurzeit am UKJ das neue Medikament, das in den Nervenwasserraum gespritzt wird – anfangs alle zwei, dann alle vier Wochen. Anschließend kommen die Patienten drei Mal im Jahr ins Klinikum. Nebenwirkungen treten bisher nicht auf.
„Wir sagen allen Eltern, dass wir uns freuen, wenn die Krankheit nicht weiter voranschreitet“, so Dr. Husain. Die Erfahrungen der ersten Monate zeigen jedoch, dass auch Verbesserungen möglich sind. Wenn die Effekte langfristig anhalten sollten, so der Mediziner, könne man durchaus von einer Revolution sprechen. „Ideal wäre es, wenn mit der Behandlung begonnen wird, bevor erste Symptome auftreten“, so Dr. Husain. Theoretisch könne die Erkrankung im Rahmen des Neugeborenen-Screenings direkt nach der Geburt diagnostiziert werden. Bis die Untersuchung auf SMA jedoch Teil hiervon werden kann, sei es noch ein weiter Weg.
Dass bei der kleinen Patientin sehr früh mit der Therapie begonnen werden konnte, macht ihren Eltern Hoffnung. Ihre Tochter sitzt mittlerweile frei und stützt sich mit den Händen ab. Die Physiotherapeutin, die regelmäßig mit ihr trainiert, bemerkt, dass ihre Rumpf- und Kopfmuskulatur immer kräftiger wird. Nun hoffen ihre Eltern, dass diese positive Entwicklung weitergeht.
Hintergrund
Das Thüringer Kompetenzzentrum für seltene Erkrankungen unter der Leitung von Prof. Ulrich Brandl, Direktor der Klinik für Neuropädiatrie, und Prof. Christian Hübner, Direktor des Instituts für Humangenetik, wurde 2015 gegründet. Es ist eines von 36 Zentren in ganz Deutschland und das einzige in Thüringen. Etwa fünf Prozent der Bevölkerung der EU ist von mindestens einer der seltenen Erkrankungen betroffen. Für die Patienten ist der Weg zur richtigen Diagnose oft lang. Das Thüringer Kompetenzzentrum versteht sich daher als Ansprechpartner für alle Patienten (und deren Behandler), bei denen keine klare Diagnose vorliegt und unklar ist, welche Fachabteilung die richtige Anlaufstelle sein könnte. Das Zentrum hat einen Koordinator eingesetzt, der Kindern und Erwachsenen mit seltenen Erkrankungen den Zugang zu den spezialisierten Teams am UKJ ermöglicht.
Symposium zum Tag der seltenen Erkrankungen
1. Februar 2018
13.00 bis 17.30 Uhr
Das Thüringer Kompetenzzentrum für seltene Erkrankungen stellt sich vor
Universitätsklinikum Jena
Hörsaal 1
Gebäude A
Am Klinikum 1
07747 Jena
Weitere Informationen erhalten Sie im Veranstaltungsflyer.