Jena (UKJ/me). Bereits seit dem vierten Lebensmonat ist die motorische Entwicklung von Sina auffällig gewesen. Aber erst im Alter von 13 Lebensmonaten erhielten sie und ihre Eltern die Diagnose „Spinale Muskelatrophie“, kurz SMA. Charakteristisch für die seltene Erkrankung ist eine voranschreitende Muskelschwäche. Um die Erkrankung aufzuhalten, erhielt die kleine Patientin im Sommer eine neuartige Genersatztherapie in der Klinik für Neuropädiatrie am Universitätsklinikum Jena (UKJ). Die Jenaer Neuropädiatrie ist das einzige Zentrum in Thüringen, welches dieses Verfahren anbietet.
„Wir sehen in der neuen Therapie einen enormen Fortschritt. Denn sie könnte lebensverändernd sein. Noch vor wenigen Jahren verlief die schwerste Form der Erkrankung dramatisch. Erkrankte Kinder verstarben in den ersten beiden Lebensjahren, weil es keine effektiven Medikamente gab“, erzählt Dr. Ralf Husain, der behandelnde Oberarzt in der Klinik für Neuropädiatrie am UKJ.
Motorische Fortschritte sind möglich
Die Eltern des eineinhalbjährigen Mädchens haben bereits kurze Zeit nach der Genersatztherapie Fortschritte bemerkt: „Auch, wenn es für andere vielleicht nur kleine Veränderungen sind, für uns sind es große Fortschritte. Wir hatten tatsächlich Gänsehaut, als wir gesehen haben, dass sie ihren Kopf selbstständig halten kann und auch die Flasche nicht mehr einfach aus der Hand rutscht. Sie probiert viel mehr, zum Beispiel greift sie nun gern nach ihren Haarspangen.“
Und auch Dr. Husain sieht erste Fortschritte: „Ihre Rumpf- und Halsmuskulatur sind stabiler geworden, sodass sie nun beginnend frei sitzen kann. Das ist natürlich ein wesentlicher Schritt in der kindlichen Entwicklung, vor dem Stehen und Laufen. Regelmäßig bekommt sie Physiotherapie, um ihr motorische Entwicklung zu fördern. Wie schnell weitere Fortschritte kommen, wird die Zeit zeigen.“
Zwischen zwei Therapieoptionen wählen
Die Genersatztherapie punktet laut Husain mit einem wesentlichen Vorteil gegenüber bisherigen Therapiemöglichkeiten. Sie wird nur einmal durchgeführt. Husain: „Über die Vene wird einmalig ein Medikament verabreicht, das in betroffenen Nervenzellen im Rückenmark wirkt. Ich nutze gern den Vergleich mit einem trojanischen Pferd, denn in dem Medikament sind nicht krankmachende Viruszellen enthalten, in denen eine voll funktionsfähige Kopie des betroffenen Gens „versteckt“ ist. Diese Gen-Kopie übernimmt ersatzweise die Funktion in den Nervenzellen und die notwendigen Eiweißstoffe werden wieder gebildet.“
Damit gibt es nun erstmals zwei Therapieoptionen für die zuvor unheilbare Erkrankung. Denn bereits seit rund drei Jahren wird die Spinale Muskelatrophie am UKJ mit einem Medikament behandelt, das über das Nervenwasser verabreicht wird. „Bisher konnten wir mit dieser Therapie 21 Patienten vom Säugling bis zum Jugendlichen behandeln. Im Gegensatz zur neuen Genersatztherapie muss dieses Medikament allerdings dreimal jährlich dauerhaft verabreicht werden. Üblicherweise schreiten die Symptome bei beiden Therapieformen nicht weiter voran. Im besten Fall kommt es zu Fortschritten der motorischen Entwicklung“, sagt der Neuropädiater.
Frühe Diagnose verbessert Therapiechancen
Die SMA tritt bei ungefähr einem von 10.000 Menschen auf. „Wir wissen, dass Nervenzellen im Rückenmark aufgrund eines genetischen Defekts zugrunde gehen. Es gibt unterschiedliche Formen, wobei der Typ 1 am häufigsten ist und die Kinder schon in den ersten Lebenswochen und -monaten Auffälligkeiten zeigen. Ihre Muskulatur ist schlaff, die Reflexe sind vermindert und wegen einer Muskelschwäche gibt es auch Probleme mit der Nahrungsaufnahme“, beschreibt Husain die Erkrankung.
Je früher die Diagnose nach der Geburt erfolge, umso besser seien die Erfolgsaussichten der neuen Genersatztherapie. „Wenn zum Beispiel eine motorische Entwicklungsverzögerung in der kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchung auffällt, sollte man sich rasch an einen Experten wenden, einen Gentest machen und sich beraten lassen“, rät Husain. Er begrüßt es deshalb, dass die Untersuchung auf spinale Muskelatrophie in das bundesweite Neugeborenenscreening aufgenommen werden soll.
Die kleine Patientin hat die Genersatztherapie bisher gut vertragen und wird weiter engmaschig von den Experten der Klinik für Neuropädiatrie am UKJ begleitet. Im September und Oktober konnten zwei weitere Kinder mit der neuen Genersatztherapie behandelt werden. Und die Hoffnung ist groß, dass die einst unheilbare Erkrankung bei diesen und anderen kleinen Patienten weiter zurückgedrängt wird.
Kontakt:
Dr. Ralf Husain
Oberarzt
Klinik für Neuropädiatrie
Universitätsklinikum Jena
Am Klinikum 1
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