Jena/ Wien/Göttingen (vdG/UKJ). Die seit anderthalb Jahren währende COVID-19-Pandemie hat einen beispiellosen Wettlauf um wissenschaftliche Erkenntnisse angestoßen, wie die Ansteckung zurückgedrängt und die Ausmaße und Folgen der Erkrankung begrenzt werden können. Die daraus entstehende Flut von wissenschaftlichen Daten nahezu aller biomedizinischen Fachdisziplinen ist selbst für Experten kaum noch beherrschbar. Es fällt zunehmend schwer, fundierte Erkenntnisse, vorläufige Befunde und Hypothesen auseinanderzuhalten – mit merklichen Folgen, auch was das Vertrauen der Bevölkerung in die Wissenschaft betrifft.
Während Maßnahmen zur Infektionsprävention schnell bekannt und Impfungen im Rekordtempo entwickelt wurden, bleiben wichtige Fragen zu den Krankheitsmechanismen unterschiedlicher Krankheitsverläufe – asymptomatisch bis kritisch krank – ungeklärt. Ein Grund hierfür ist, dass die durch SARS-CoV-2 ausgelöste körpereigene Abwehrreaktion äußerst komplex und uneinheitlich ausfällt. Dadurch fehlen aber wichtige Voraussetzungen für die Entwicklung evidenzbasierter Behandlungsstrategien gegen COVID-19.
Internationale, interdisziplinäre Kooperation für gesichertes COVID-19-Wissen
Koordiniert von Autoren aus Wien, Göttingen und Jena hat die European Group on Immunology of Sepsis, kurz EGIS, nun die Masse der erschienenen Publikationen gesichtet und kritisch ausgewertet. In einem ausführlichen Übersichtsartikel fasst die Autorengruppe die wichtigsten Erkenntnisse zur COVID-19-Pathophysiologie zusammen. 2018 als wissenschaftliche Diskussionsplattform für Fragen zur Immunologie der Sepsis etabliert, bietet das EGIS-Netzwerk durch seine Interdisziplinarität beste Voraussetzungen, um die ausufernde COVID-Datenmenge zu sichten und kritisch zu durchleuchten. EGIS umfasst 27 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus zehn Ländern und verschiedenen Fachdisziplinen. „Die vorbehaltfreie Zusammenarbeit über Fächer- und Ländergrenzen hinweg ist entscheidend, gerade in der derzeitigen Situation“, betont einer der EGIS-Koordinatoren und Letztautor Dr. Ignacio Rubio vom Universitätsklinikum Jena. „Nur durch eine größtmögliche Bündelung wissenschaftlicher Expertise werden wir in unserem Streben nach gesichertem ‚COVID-19-Wissen‘ entscheidend vorankommen.“
Welche Ergebnisse konnte das EGIS-Team nun zur Pathophysiologie, also den Krankheitsmechanismen von COVID-19 zusammentragen? Im Unterschied zu anderen Corona-Viren, die häufig nur milde bis moderate Erkältungssymptome verursachen, vermehrt sich SARS-CoV-2 in den unteren Atemwegen und löst so eine schwere Lungenentzündung bis hin zu akutem Lungenversagen aus. Ein entscheidender „infektiöser Vorteil“ von Sars-CoV-2 ist hierbei dessen gleichzeitig lang andauernde Besiedlung und Vermehrung auch in den oberen Atemwegen.
SARS-CoV-2 schädigt das Gefäßendothel
„Erstaunlich ist die Erkenntnis, dass wir in einer bestimmten Phase der Erkrankung Patienten sehen, deren Sauerstoffgehalt im Blut kritisch reduziert ist, die aber zunächst oft keine Einschränkungen der Lungenbelüftung zeigen. Patienten atmen selbst in Ruhe nicht selten ein Vielfaches als normal üblich. Dies ist neu für uns! Es ist vermutlich ein Ausdruck, dass die virale Infektion zunächst eher die Blutgefäße betrifft als die belüfteten Areale der Lunge und so den schweren Sauerstoffmangel verursacht. Durch eine virusbedingte Schädigung der innersten Zellschicht von Blutgefäßen, dem Endothel, erklären sich auch andere häufige COVID-19 typische Organkomplikationen durch z.B. Thrombosen oder Gerinnungsstörungen“, so Priv.-Doz. Dr. med. Martin Winkler von der Universitätsmedizin Göttingen.
Dazu kommt eine untypische Immunantwort. Im Vergleich zu Influenza und anderen schweren Infektionen werden bei COVID-19 länger entzündungsfördernde Botenstoffe, Zytokine genannt, produziert, jedoch in deutlich niedrigerer Konzentration. Dieses untypische Entzündungsprofil unterscheidet COVID-19 von anderen septischen Krankheitsbildern und erschwert möglicherweise die Immunantwort und damit auch die effiziente Elimination des Virus. Tatsächlich ist eine hohe virale Belastung mit der Erkrankungsschwere assoziiert.