Männern wird nachgesagt, mit ihrer Gesundheit weniger achtsam umzugehen als Frauen? Ist das bei Männern, sprichwörtlich, alles „Nervensache“?
Prof. Witte: Männer und Frauen unterscheiden sich: biologisch in vielen Dimensionen, sowohl was körperliche Funktionen angeht, aber auch was das Gehirn und ebenso was erlernte Verhaltensweisen angeht. Zu letzterem: Tatsächlich gibt es Unterschiede in der Art und Weise, wie das männliche und weibliche Gehirn arbeiten. Ein Beispiel ist die Interaktion zwischen den Hemisphären, darunter verstehen wir einfach gesagt die Hälften des Kleinhirns und Großhirns. Hier gibt es Erkenntnisse, dass diese bei Frauen besser funktionieren als bei Männern, während bestimmte andere, zum Beispiel räumliche Funktionen bei Männern anders ausgebildet sind. Das Gehirn von Männern und Frauen hat statistisch auch eine unterschiedliche Größe – bei Männern etwa 1 375 g, bei Frauen 1 250 g, dies korreliert aber mit dem Körpergewicht und hat keinen Einfluss auf die Intelligenz. Daneben gibt es Unterschiede in sozial geprägten und erlernten Verhaltensweisen, die dazu führen, dass Männer sich in Gruppen anders verhalten als Frauen. Wir diskutieren und erleben dies aktuell im Sinne der Gleichberechtigung, dass und wie wir darauf achten, dass Frauen gleichberechtigt in die sogenannte Männerwelt kommen. Aber umgekehrt ist es ebenso wichtig, dass wir die spezifischen Verhaltensweisen bei Männern berücksichtigen müssen. Ein dritter Aspekt: Es ist nicht nur das Gehirn, das sich unterscheidet. Es ist auch der Körper. Wir wissen aus verschiedenen Studien, dass Medikamente unterschiedlich wirken bei Männern und Frauen. Das bedeutet, dass wir insgesamt eine spezifische und differenzierte Betrachtung der Medizin für Männer und Frauen brauchen.
Gibt es das männliche oder das weibliche Gehirn? Sprich, gibt es in der Gestalt des Gehirns Unterschiede?
Prof. Witte: Das ist eine spannende Frage. Es gibt Unterschiede, die wir in Abhängigkeit bestimmter Fähigkeiten erkannt haben. Menschen mit einem absoluten Gehör und einer ausgeprägten Wahrnehmung von Musik haben beispielsweise ein größeres Planum temporale, also eine bestimmte Struktur in dem Teil des Gehirns, genauer der Oberfläche des Schläfenlappens, der Musik verarbeitet. Ob dies nun Folge der Tätigkeit ist oder angeboren – wir vermuten beides. Ebenso gibt es systematische Unterschiede in der Größe bestimmter Hirnareale: Das Gehirn von Frauen hat im Mittel ein größeres Sprachzentrum, während bei Männern im Mittel der Mandelkern und der Hippocampus größer sind. Der Bezug dieser Strukturunterschiede zur Funktion ist weniger klar.
Es gibt wohl einen ganz kleinen Teil im Gehirn, genauer im Zwischenhirn, er misst nur wenige Millimeter, der Forschern angeblich verlässlich verrät, ob ein Gehirn einem Mann oder einer Frau gehört. Der sogenannte Nucleus präopticus medialis. Was müssen wir uns darunter vorstellen?
Prof. Witte: Diese Region im Gehirn ist tatsächlich bei Männern doppelt so groß wie bei Frauen. Sie ist beteiligt an der Steuerung der Sexualität, aber auch am Fettstoffwechsel wie an der Organisation des Schlafes. Es ist eigentlich nicht verwunderlich, dass hormonabhängige Regionen des Gehirns unterschiedlich zwischen Männer und Frauen ausgebildet sind.
Neurologen können über 700 Diagnosen vergeben: Parkinson, Epilepsie, Multiple Sklerose und Alzheimer sind wohl die häufigsten und auch bekanntesten. Gibt es eine Spezifik in der Ausprägung oder Häufigkeit, wenn Männer daran erkranken?
Prof. Witte: Bei vielen Erkrankungen ist es in der Tat so, dass die Wahrscheinlichkeit, daran zu erkranken, geschlechtsspezifisch ist. Hier zu nennen sind viele entzündliche Erkrankungen, wie die Multiple Sklerose, aber auch affektive und somatoforme Störungen, die bei Frauen häufiger sind, während Männer häufiger von chronischen Nervenentzündungen oder einer Bechterewschen Erkrankung betroffen sind.
Angstdiagnose Schlaganfall. Können Sie bestätigen, dass es hier auch eine hohe Spezifik zwischen Männern und Frauen gibt?
Prof. Witte: Bei Männern treten Schlaganfälle im Alter schon früher auf als bei Frauen und bei Frauen nähert sich das Risiko im höheren Alter dem der Männer an oder überholt diese. Offensichtlich gibt es hier hormonspezifische Auswirkungen auf die Wahrscheinlichkeit, einen Schlaganfall oder überhaupt eine Gefäßerkrankung zu bekommen. Hier sind auch Unterschiede in der Arteriosklerose zu nennen, einem Risikofaktor von Schlaganfällen, wie auch weniger stark bei der Hypertonie.
Empfinden Männer Schmerzen anders als Frauen?
Prof. Witte: Das ist eine interessante Frage. Die Männer verarbeiten sie zumindest nach außen anders. Wobei es immer noch unklar ist, ob sie einfacher damit umgehen können oder nicht, sicher ist das auch situationsabhängig. Ob Männer Schmerzen wirklich anders empfinden, ist in den Studien umstritten – ich glaube, dass die Verhaltensweisen im Umgang damit unterschiedlich sind. Am Ende sind Männer nach meinem Ermessen nicht unbedingt weniger schmerzsensitiv als Frauen.
Rund drei Viertel aller vollendeten Suizide entfallen auf Männer. Haben Sie Erkenntnisse darüber, woran das liegt?
Prof. Witte: Die Wahrscheinlichkeit, dass Suizide erfolgreich durchgeführt werden, ist bei Männern deutlich höher als bei Frauen. Hier spielt das Verhalten, also der Umgang damit, wie ich einen Suizid oder Suizidversuch ausführe, eine Rolle. Auch die Frage, wie stark dieser Akt einen demonstrativen Charakter hat, ist bedeutsam. Übrigens haben Frauen eine höhere Lebenserwartung als Männer, und zwar deutlich, um rund fünf Jahre. Insgesamt ist es ja eigentlich erfreulich, dass es Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt. Aber wir müssen die Unterschiede auch in der Medizin berücksichtigen: früher wurden experimentelle Untersuchungen meist nur an männlichen Tieren durchgeführt, weil man da eine geringere zyklusabhängige Varianz erwartete. Inzwischen muss man bei der DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft) – zu Recht – begründen, warum und wie man den Geschlechtsunterschied bei Untersuchungen berücksichtigt. Und auch in klinischen Studien zeigen sich zunehmend Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Hier haben wir in den letzten Jahren viel dazugelernt.
Interview: Annett Lott
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