Jena (UKJ). Die neue Ausgabe des Klinikmagazins ist erschienen. Im Fokus steht dieses Mal das Thema der Digitalisierung im Gesundheitswesen. Telemedizin, E-Health, elektronische Patientenakte oder KI: Diese Begriffe stehen für eine Einwicklung, die – da sind sich viele Spezialisten einig – in den nächsten fünf Jahren im Gesundheitswesen zu einem grundlegenden Wandel führen wird. Ein Gespräch mit Prof. Dr. André Scherag. Er ist seit 2017 Direktor des Instituts für Medizinische Statistik, Informatik und Datenwissenschaften am Universitätsklinikum Jena.
Vernetzte Medizin: Was darf sich ein Patient darunter vorstellen?
Prof. Scherag: Ich würde vernetzte Medizin weiterfassen wollen als Digitalisierung in der Medizin. Aktuell ist unser Gesundheitswesen sehr stark zergliedert, hier Arztpraxen oder Medizinische Versorgungszentren, dort stationäre Medizin beziehungsweise Krankenhäuser und dann noch Pflege- oder Reha-Einrichtungen. Aber der Informationsfluss zwischen diesen funktioniert nicht wirklich gut. Und das ist eben nicht nur auf der technischen Ebene zu sehen, sondern auch auf der menschlichen Ebene. Gerade in Deutschland sind die einzelnen Einrichtungen stark isoliert, man spricht technisch von Datensilos. Jede Einrichtung für sich betrachtet arbeitet unter Umständen durchaus auf technisch hohem Niveau, jedoch können dort gespeicherte Patientendaten nicht so ohne Weiteres von A nach B transferiert werden.
Das Idealbild sieht anders aus: Der Patient geht vom Hausarzt zu einem Facharzt, und dieser bekommt alle wichtigen Informationen des Patienten bereits vorgeblendet, noch bevor der Patient den ersten Termin wahrnimmt. Wir sprechen also immer von mindestens zwei Ebenen: der einer technischen Lösung und der der jeweiligen Arbeitsabläufe, die unter Umständen nochmals neu gedacht werden müssen.
Stichwort Patientennutzen: Fallen dann künftig Doppeluntersuchungen weg?
Prof. Scherag: Das wird in der Diskussion immer gerne vorangestellt. Ob das tatsächlich so kommen wird, bleibt abzuwarten. Aber es wird in jedem Fall viel leichter sein, Befunde, die in der Vergangenheit schon einmal gemacht wurden, mitzunehmen und vor allem Krankheitsverläufe besser nachvollziehen zu können. Im Moment haben wir eine starke Ausrichtung auf die akute Behandlungssituation. Jeder, der schon mal im Krankenhaus war, kennt das: Alles wird nochmal neu erfasst. Aber es wird nur selten als Referenz genutzt, was man in der Vergangenheit, also in der individuellen Krankengeschichte, schon mal vorliegen hatte. Das passiert so, weil die Systeme gerade in Deutschland stark auf die Abrechnung ausgerichtet sind und weniger am klinischen Bedarf.
Das UKJ bietet unmittelbar in Jena und im Umland Universitätsmedizin und ist Supramaximalversorger. Eine höhere medizinische Expertise gibt es für Patienten im Grunde nicht. Aber im ländlichen Raum, gerade auch in Thüringen, ist die Versorgung nicht so umfassend strukturiert. Kann da Telemedizin helfen?
Prof. Scherag: Das ist auf jeden Fall der Wunsch, das Ziel. Dort wollen wir hin. Ob das realisierbar ist, hängt davon ab, dass wir nicht nur digital beziehungsweise technisch denken, sondern die Menschen und ihre Lebensrealität betrachten. Es bringt uns nicht weiter, wenn wir nur die technische Infrastruktur aufbauen, soll heißen Videosprechstunden im Thüringer Wald mit einem störungsfreien Netz. Der menschliche Kontakt muss trotzdem gegeben sein. Die Zukunft der Medizin kann also nur so aussehen, dass es neben digitaler Hightech immer auch die menschliche Komponente geben muss. Das erwarten und brauchen die Patienten auch.
Was ist denn auch Ihrer Sicht das bisherige Highlight dieser digitalen Entwicklung in der Medizin?
Prof. Scherag: Sicherlich der positive Umstand, dass es gelungen ist, Teile der beschriebenen Insellösungen aufzubrechen, zum Beispiel mit der Medizininformatik-Initiative, in der wir als UKJ auch sehr engagiert sind. Hierbei haben wir es innerhalb kürzester Zeit geschafft, an allen Universitätskliniken in Deutschland, es sind über 30, sogenannte Datenintegrationszentren aufzubauen. In diesen Datenintegrationszentren werden Daten aus der stationären Behandlung zusammengeführt, und zwar so, dass man sie standortübergreifend nutzen kann – nicht nur für die eigentliche Behandlung, sondern auch für Forschungsfragen. Das war schon ein Meilenstein. Ein zweites Beispiel, aus der Pandemie geboren, ist das Netzwerk Universitätsmedizin, kurz NUM. Hier sind durch die Unikliniken in Deutschland ad hoc relativ viele verschiedene Forschungsprojekte rund um COVID-19 initiiert worden, die einen hohen klinischen Bezug haben.
Wie stellen Sie sich die künftige Entwicklung der Digitalisierung im Gesundheitswesen in Deutschland vor? Gibt es ein Vorbild?
Prof. Scherag: Digitalisierung wird in Deutschland leider immer noch zu sehr als rein technische Herausforderung gesehen. Technik ist aber nur ein Teil der Lösung. Wenn ich viel Geld in Hardware investiere, die aber niemand bedienen oder gar administrieren kann, dann hilft das nicht weiter. In der Medizininformatik-Initiative wurde hier vieles besser gemacht, weil man in Infrastruktur investiert hat, die insbesondere auf interdisziplinäre Teams setzt. Wir hoffen, dass das in der nächsten Phase ab 2023 weiterhin so sein wird. Wenn man ein Vorbild sucht, dann sollte man in Richtung UK schauen. Dort wurden in der Pandemie sehr schnell und unbürokratisch große, internationale, pragmatische klinische Studien mit digitaler Unterstützung durchgeführt, die als Plattformstudien sehr schnell zu klinisch brauchbaren Antworten geführt haben.
Die Medizin im Jahr 2050. Haben Sie persönlich eine Vision?
Prof. Scherag: Es wird zunehmend so sein, dass Forschung, Lehre und Krankenversorgung miteinander verschmelzen. Und im positiven Fall wird es so sein, dass Ärztinnen und Ärzten
mehr Zeit bleibt, Gespräche mit ihren Patienten zu führen. Einfach, weil sie sich nicht mehr, so wie heute, vom Patient wegdrehen und parallel etwas in den Rechner tippen (müssen). Es wird dann so sein, dass ein kleines Gerät mit am Tisch steht, also kein Diktiergerät, sondern ein intelligentes Gerät. Was tut es? Es „hört“ zu und erstellt aus dem Redefluss zwischen Arzt und Patient eine strukturierte Anamnese. Da steckt dann natürlich im weitesten Sinne auch künstliche Intelligenz dahinter. Natürlich muss der Arzt das nochmals validieren, bevor es in der Datenbank abgelegt wird. Aber das Arzt-Patienten-Gespräch wird nicht mehr unterbrochen durch die Dokumentation des Arztes.
Das klingt nach einer Alexa für Ärzte?
Prof. Scherag: Ja, so kann man sich das vorstellen. Natürlich muss sie im Vorfeld mit einer Art Regelwerk, medizinischem Wissen oder Diagnosekatalog „gefüttert“ werden. Aber sie wird lernen und sich im Laufe der Zeit auf den jeweiligen Arzt und dessen Patienten einstellen. Und natürlich werden wir insgesamt Daten in sehr strukturierter Art und Weise vorliegen haben, die maschinenlesbar sind. Das heißt, sie können zeitnah so aufbereitet werden, dass der Arzt bereits die gesamte Krankengeschichte vorliegen hat, bevor er den Patienten zum ersten Mal sieht. Wir kennen das von unseren Hausärzten, die über viele Jahre die ganze Familie betreuen und vom Großvater bis zu den Söhnen und Enkeln alles wissen, weil sie sich das über Jahrzehnte aufgeschrieben haben. Das leisten dann die Computer in kürzester Zeit. Das ist aber erst der Behandlungsteil. Diese Daten können gleichzeitig auch für die Forschung genutzt werden, um gezielt Wissenslücken zu identifizieren.
Werden künftig Alexas unseren Gesundheitszustand überwachen und künstliche Intelligenz erstellt Diagnosen und schlägt Therapien vor? Was wird dann aus dem Arzt?
Prof. Scherag: Ja, diese ersten konkreten Anwendungen aber auch weitreichendere Ideen einiger Tech-Konzerne gibt es bereits. Wir erwarten, dass sich solche Ansätze nur durchsetzen werden, wenn die reine Technik in ein Versorgungskonzept eingebettet ist. Manch einer vermutet sogar, dass wir irgendwann nicht mehr unterschieden können, ob wir mit dem virtuellen oder dem realen Doktor reden.
Von der Zukunft noch einmal zurück zur Gegenwart. Wir sprachen von der Medizininformatik-Initiative und dazu gehört auch SMITH. Können Sie das näher beleuchten?
Prof. Scherag: Wie schon gesagt, wir wollen die Datensilos verlassen und standortübergreifend Vergleichbarkeit erreichen. In Deutschland gibt es dafür vier Konsortien, die die Gesamtheit der Universitätsmedizin in der Medizininformatik-Initiative abdecken. SMITH, was für „Smart Medical Information Technology for Healthcare“ steht, ist eines der Konsortien. Und in Jena sind wir dabei sogar Gründungsstandort gewesen, gemeinsam mit Leipzig und Aachen. Inzwischen sind aber weitere Partner hinzugekommen. Insgesamt sieben Unikliniken haben jetzt ein entsprechendes Datenintegrationszentrum aufgebaut. Drei weitere Netzwerkpartner werden das demnächst aufbauen. Hier sind wir auf einem wirklich guten Weg.
Interview: Annett Lott
Zum Klinikmagazin: Seit mehr als 20 Jahren existiert das Klinikmagazin des Universitätsklinikums Jena. Es erscheint vierteljährlich und stellt aktuelle Themen aus Medizin und Pflege vor, nennt Ansprechpartner am UKJ und blickt auch hinter die Kulissen von Thüringens größter Klinik. Die Online-Version des Magazins (Ausgabe 02/2022) ist hier zu finden.
Auch ältere Ausgaben sind online abrufbar. Das Klinikmagazin kann außerdem kostenlos bestellt werden: Einfach per Mail an presse@med.uni-jena.de oder per Telefon unter der Telefonnummer: 03641/9-391181.