Jena (ukj/as). Nach der Geburt muss es schnell gehen. Sobald der Mutterkuchen – die Plazenta – den Körper der Mutter verlässt, beginnt die Arbeit für Jana Pastuschek und ihre Kollegen. Behutsam bringen sie das frische Organ aus dem Kreißsaal der Frauenklinik am Universitätsklinikum Jena (UKJ) in den wenige Meter entfernten Anbau, in dem das „Placenta-Labor“ untergebracht ist. Nach der Geburt bleibt dem Team etwa eine halbe Stunde, um alles vorzubereiten: Auf der kindlichen Seite der Plazenta nähen sie einen Schlauch in die Arterie ein, durch die Vene führt einer wieder hinaus. Auf der mütterlichen Seite stecken sie locker eine Hand voll Knopfkanülen ins Gewebe hinein, verbinden diverse Schläuche miteinander. „Wir simulieren zwei Kreisläufe, die durch die Plazenta getrennt sind – so wie auch im Mutterleib“, sagt Diplom-Biologin Pastuschek, die alles für die deutschlandweit einmalige Forschungsmethode am Mutterkuchen vorbereitet.
Für möglichst „naturnahe“ Bedingungen baut sie die ganze Apparatur in Becken mit 37 Grad warmem Wasser auf. Zwei Pumpen lassen ein Blut-ähnliches Kulturmedium durch die Schläuche fließen. Zwölf Milliliter Flüssigkeit gehen pro Minute durch den mütterlichen Kreislauf, drei Milliliter durch den kindlichen. Der mütterliche wird mit Sauerstoff angereichert, der kindliche mit einem Stickstoff- Kohlendioxid-Gemisch. „So schaffen wir es, das Gewebe am Leben zu halten“, sagt Pastuschek. Im Labor ist sie für die so genannte Plazenta-Perfusion zuständig. Seit den 1960er-Jahren existiert diese Methode – auch in Jena. Doch bis heute arbeiten weltweit nur wenige Gruppen damit, in Deutschland ist das Jenaer Team das einzige. „Die Methode ist sehr aufwendig“, so Pastuschek. Der komplizierte Aufbau wird in keiner Ausbildung und keinem Studium gelehrt, die Apparatur gibt es nicht zu kaufen. Die speziell geformten Kammern aus Plexiglas, die verschiedenen Verbindungsstücke – alles sind Sonderanfertigung der Zentralen Forschungswerkstatt des Klinikums.
Warum betreiben die Jenaer Wissenschaftler diesen Aufwand? „Die Plazenta ist das einzige frische Organ des Menschen, das uns Wissenschaftlern in gesundem Zustand in großer Zahl zur Verfügung steht“, sagt Laborleiter Prof. Udo Markert. Mit rund 1500 Geburten pro Jahr seien die Voraussetzung in Jena günstig. Dass die Forschungsmethode hier so erfolgreich ist, liege auch an dem gut geschulten Kreißsaal-Team um Oberärztin PD Dr. Tanja Groten. Durch die enge Zusammenarbeit landen die Organe zügig bei Jana Pastuschek im Labor. Wenn hier die Kreisläufe stehen, beginnt der eigentliche Test. Die Wissenschaftler geben eine Substanz in den mütterlichen Kreislauf und lassen die Pumpen mehrere Stunden arbeiten. Anschließend wird gemessen, ob und welche Stoffe beim Kind ankommen. Bis zu zwölf Stunden kann ein Versuch dauern, dann wird die Plazenta durchlässig.
Zeigt das Ergebnis beispielsweise, dass ein Wirkstoff die Plazenta durchdringt, kann das zu dem Hinweis auf dem Beipackzettel führen, dass Schwangere dieses Medikament nicht einnehmen sollten. Konzerne sind jedoch nicht verpflichtet, den Test durchführen zu lassen „Es gibt dazu bisher keine gesetzlichen Vorgaben“, so Pastuschek. „Die Methode ist leider noch recht unbekannt.“ Dass eine Substanz über die Plazenta auf das Kind übergeht, muss nicht immer negativ sein. Bei einem vorzeitigen Blasensprung, der oft durch eine Infektion in der Scheide ausgelöst wird, soll das Antibiotikum nicht nur die Mutter, sondern auch das Kind schützen. „Zur Frage, wie diese Medikamente auf das Ungeborene wirken, läuft derzeit bei uns ein von der Mitteldeutschen Gesellschaft für Frauenheilkunde und Geburtshilfe gefördertes Forschungsprojekt, um den Schutz der Kinder zu verbessern“, so Prof Ekkehard Schleußner, geschäftsführender Direktor der Klinik für Geburtshilfe und Frauenheilkunde am UKJ.
Die Tests am Mutterkuchen sollen jedoch nicht nur Informationen über die Schwangerschaft liefern. Als menschliches Organ ist die Plazenta auch interessant für die allgemeine Toxikologie. An ihr prüfen die Wissenschaftler, welche Chemikalien und Pharmazeutika unbedenklich für den menschlichen Organismus sind, welchen Einfluss Umweltgifte, Lebensmittelzusätze oder Nanopartikel haben. Das Organ ist mit großen Blutgefäßen und zahlreichen Zelltypen ausgestattet, so dass ganz unterschiedliche Parameter gleichzeitig gemessen werden können – beispielsweise die Cytokin-Ausschüttung von Immunzellen oder die Hormonsynthese. Alle Schwangeren werden vor der Entbindung über die Arbeit des „Placenta- Labors“ informiert. „Die Bereitschaft der Frauen, uns die Gebärmutter nach der Geburt zu überlassen, ist sehr groß“, so Pastuschek. Plazentagewebe steht daher permanent zur Verfügung. Doch auch, wenn das Team jeden Tag einen Versuch startet, verlaufen nur 20 Prozent der Tests erfolgreich. Die mechanische Belastung während der Geburt ist enorm, so dass oft minimale Risse entstehen, die mit bloßem Auge nicht zu sehen sind. Diese Lecks machen sich erst bemerkbar, wenn die erste Flüssigkeit durch die Schläuche gepumpt wird
Dennoch spricht einiges für diese aufwendige Methode: Im Gegensatz zu Tierversuchen ist sie ethisch unbedenklich. Da sich beispielsweise die Hormon- und Immunsysteme von Tieren und Menschen deutlich unterscheiden, lassen sich manche Ergebnisse nicht oder nur falsch auf den menschlichen Organismus übertragen. Prominentes Beispiel ist der Antikörper TGN1412, der zuvor an Affen getestet und als unbedenklich eingestuft worden war, die Substanz kostete in einem ersten Test an einem Londoner Krankenhaus jedoch sechs Menschen beinahe das Leben. Das Medikament, das unter anderem gegen Multiple Sklerose und diverse Krebsarten eingesetzt werden sollte, führte bei den Probanden zu multiplem Organversagen. „Daher besteht eindeutig Bedarf an neuartigen toxikologischen Testsystemen, die die humane Biologie besser repräsentieren“, so Dr. André Schmidt, der zum Jenaer Forscherteam gehört. Das Labor wird Anfang kommenden Jahres nach Lobeda ziehen. Die Methode der Plazenta-Perfusion bleibt aber noch so lange in der Bachstraße, bis auch die gesamte Frauenklinik umzieht. Mit der Fahrzeit zwischen Kreißsaal und Labor wäre es sonst nicht mehr möglich, die Tests rechtzeitig zu starten, so Pastuschek. „Wir müssten die Plazenten dann mit dem Hubschrauber fliegen."