Jena (ukj/as). Plötzlich schmeckt Großmutters Essen merkwürdig. Alle Familienmitglieder bemerken es und befürchten das Schlimmste: Ist Großmutter jetzt dement? Muss sie ins Pflegeheim? „Viele wissen nicht, dass es zu den altersbedingten physiologischen Veränderungen gehört, dass sich auch der Geschmack ändert“, so Dr. Anja Kwetkat. Großmutter kann ihr Leben trotz der ungewohnten Gewürzmischung also durchaus noch gut im Griff haben. Fehleinschätzungen und Vorurteilen zu begegnen, ist die kommissarische Direktorin der Klinik für Geriatrie am Universitätsklinikum Jena (UKJ) gewohnt. Generell herrsche große Unwissenheit darüber, wie sich alternde Menschen körperlich und psychisch wandeln. „Viele Symptome haben oft andere Ursachen, als die Angehörigen vermuten.“
Aber auch, was in einer geriatrischen Klinik geschieht, erfordert viele erklärende Gespräche. Als 2007 die Klinik für Geriatrie in Jena gegründet wird, im Januar 2008 die erste Station mit 20 Betten und im April die zweite Station mit 19 Betten eröffnet, ist sie eine der wenigen Einrichtungen dieser Art an einem Universitätsklinikum. „Doch alle anderen meinten zu wissen, was unter Geriatrie zu verstehen ist“, so Dr. Kwetkat, die anfangs kontroverse Diskussionen mit Medizinern anderer Fachrichtungen darüber führen musste, welche Patienten bei ihr am besten aufgehoben seien. Bei einem Symposium zum zehnjährigen Bestehen der Klinik für Geriatrie am Mittwoch, 26. April, in den Rosensälen in Jena wird die Chefärztin unter anderem auf diese Anfänge zurückblicken.
„Der diagnostische Prozess spielt bei uns eine große Rolle“, so Dr. Kwetkat. Es gehe um weit mehr, als die betagten Patienten nur „gut zu versorgen“. Auch einige Mitarbeiter der Klinik mussten zunächst feststellen, dass sie mit anderen Erwartungen gekommen waren. „Wir sind keine Reha-Einrichtung, medizinische Fragen nehmen einen großen Raum ein“, so Dr. Kwetkat. Die Menschen, die in ihrer Klinik behandelt werden, sind meist über 70 Jahre alt und bringen mehrere Erkrankungen gleichzeitig mit. Häufig nehmen sie eine Vielzahl an Medikamenten ein. Diese Auswahl und Dosierung zu überprüfen, um unerwünschte Neben- und Wechselwirkungen zu umgehen, ist ein Schwerpunkt der Jenaer Geriater. Andere Patienten sind weit über 80 Jahre alt und beispielsweise davon bedroht, ihren Alltag nicht mehr allein meistern zu können. „Wenn sich alte Menschen aus Angst vor einem Sturz kaum noch bewegen, können wir durch eine gezielte aktivierende Therapie eine höhere geistige und körperliche Belastbarkeit erreichen“, so Dr. Kwetkat, die der Sturzprävention eine wichtige Bedeutung beimisst.
Das Ziel des ganzheitlichen Konzepts ist es, die Gesundheit, das Wohlbefinden, die Selbstständigkeit und die Mobilität so weit wie möglich wiederherzustellen. Jeder Aufenthalt beginnt damit, ein realistisches Therapieziel festzulegen. „Im Alter ist viel mehr möglich, als oft angenommen wird“, so Dr. Kwetkat. Mit ihrem interdisziplinären Therapeutenteam sucht sie nach individuellen Lösungen für die Probleme jedes einzelnen Patienten. Neben Ärzten und Pflegekräften steuern Logopäden, Ergo- und Physiotherapeuten, Mitarbeiter des Sozialdienstes und der Neuropsychologie ihr Wissen bei. Gerade Medizinstudenten und junge Assistenzärzte seien oft erstaunt, wie viel durch die Therapie bewirkt werden kann. „Wir kriegen viele Patienten tatsächlich wieder zum Laufen“, so Dr. Kwetkat. Manchmal sei es aber auch ein guter Erfolg, die Leistungsfähigkeit zu erhalten – denn auch das ist mit steigendem Alter mit immer größerer Anstrengung verbunden.
In einer stets älter werdenden Gesellschaft wächst der Bedarf an geriatrischer Versorgung kontinuierlich. Am Universitätsklinikum Jena nahm daher zusätzlich zu den beiden Stationen im Dezember 2011 eine geriatrische Tagesklinik ihre Arbeit auf. „Diese Einrichtung dient als Schnittstelle zwischen ambulanter und stationärer Versorgung und ergänzt die Betreuung durch Hausärzte“, so Dr. Kwetkat. Gerade bei aufwändiger Diagnostik und der Verordnung von Heilmitteln könne die Tagesklinik die Hausärzte entlasten. „Das frühe Handeln im Rahmen der tagesklinischen Angebote trägt dazu bei, dass stationäre Aufenthalte verhindert werden können.“ Mehr als 60 Prozent der Patienten beenden die Therapie in der Tagesklinik mit einem verbesserten Barthel-Index. Dahinter verbirgt sich ein Verfahren, das die alltäglichen Fähigkeiten eines Patienten systematisch erfasst und mit Punkten bewertet. Die Skala reicht von null Punkten für einen komplett Pflegebedürftigen bis zu 100 Punkten für einen Patienten, der die grundlegenden Alltagsaktivitäten selbständig bewältigen kann. Dr. Kwetkat: „Bei unseren stationären Patienten, die von einem schlechteren Niveau als unsere Patienten der Tagesklinik starten, verbessert sich der Barthel-Index sogar bei über 80 Prozent.“
Doch damit ein alter Mensch wieder in sein gewohntes Umfeld zurückkehren kann, ist weit mehr als Medizin gefragt. Soziales und körperliches Befinden, persönliche Ziele und die eigenen Erwartungen spielen eine ebenso wichtige Rolle wie medizinische Daten. Ob ein Patient nach seinem Aufenthalt in der Klinik tatsächlich wieder zu Hause wohnen kann, hängt entscheidend vom Umfeld ab, das ihn erwartet. „Bei einem halbseitig gelähmten Menschen, der allein in einer Stadtwohnung im dritten Stock lebt, fällt die Antwort anders aus, als bei einem genauso Kranken, der familiär eingebunden ist und mit Angehörigen unter einem Dach lebt.“ Doch die Gesellschaft wandelt sich, immer häufiger leben alte Menschen weit entfernt von anderen Familienmitgliedern. „Man kann sagen, dass das soziale Netz löchriger wird“, so Dr. Kwetkat. Diese Lücken durch andere Angebote und neue Netzwerke zu schließen, ist eine Herausforderung, der sich auch das Team der Jenaer Klinik für Geriatrie stellt.
Kontakt:
Klinik für Geriatrie
Bachstraße 18
07743 Jena
Tel. 03641 / 934901
Symposium
zum zehnjährigen Bestehen der Klinik für Geriatrie
„Geriatrie der Zukunft: Eine gesellschaftliche Herausforderung?“
26.04.2017, 16.00 – 20.00 Uhr
Rosensäle Jena, Fürstengraben 27, 07743 Jena
Neben einem Impulsvortrag zur Geriatrie der Zukunft von Dirk van den Heuvel, dem Geschäftsführer des Bundesverbandes Geriatrie stehen Fachvorträge zur Problematik der Polymedikation auf dem Programm, zu Infektionen im Alter sowie zu architektonischen Konzepten, die das Gebaute an die Bedürfnisse alter und an Demenz erkrankter Menschen anpassen. Außerdem zeichnet Dr. Anja Kwetkat die Entwicklung der Klinik für Geriatrie seit der Gründung vor zehn Jahren bis heute nach.