SARS-CoV-2, COVID-19 oder Corona – um das Virus drehen sich viele Begriffe. Und über viele Wochen und Monate hat es die ganze Welt in Atem gehalten. Was haben unsere Experten, darunter der Infektiologe Prof. Mathias Pletz, inzwischen über das Virus gelernt? Was sind die Erwartungen für die Zukunft? Ein Gespräch mit Prof. Pletz, der das Institut für Krankenhaushygiene und Infektionsmedizin am UKJ leitet.
Gut vier Monate im Corona-Modus liegen hinter uns. Fazit heute – was war Ihre überraschendste Erkenntnis?
Prof. Pletz: Das kann ich schwer auf einen Punkt reduzieren. Ein erfreuliches Ergebnis ist sicher, dass die Welle nie so gekommen ist, wie befürchtet wurde – nachdem wir alle die Bilder aus Norditalien gesehen haben. Die zweite, auch erfreuliche Überraschung ist aus meiner Sicht, dass die Maske, also der Mund- Nasen-Schutz, als Schutzmaßnahme sowohl im Krankenhaus als auch im normalen Alltag hohe Akzeptanz gefunden hat und dass es immer mehr Nachweise dafür gibt, dass die Maske tatsächlich etwas bringt – vor Kurzem hat nun auch die WHO die „Alltagsmaske“ empfohlen. Das ist ein absolutes Novum. Ich hoffe, dass die von allen verinnerlichten Hygieneregeln – Abstand, Händehygiene, Alltagsmaske, regelmäßiges Lüften von geschlossenen Räumen – uns über COVID hinaus begleiten werden und auch die Ausbreitung anderer Atemwegsviren im Winterhalbjahr, zum Beispiel Influenza oder RS-Viren deutlich einschränken.
Wir wissen von Viren, dass sie sich mit der Zeit verändern, ja mutieren. Stimmt es, dass sich auch SARS-CoV-2 bereits verändert?
Prof. Pletz: Wir wissen, dass es durch den Speziessprung vom Tier auf den Mensch Veränderungen gegeben haben muss. Aber ob es seit der Zirkulation im Menschen weitere Veränderungen gegeben hat, ist nicht ganz klar. Es gab vor wenigen Monaten eine erste Veröffentlichung, in der zwei Typen unterschieden wurden: eine aggressive und eine weniger aggressive Variante des Virus. Wir haben das Papier unseren eigenen Bioinformatikern gegeben, und sie hatten große handwerkliche Fehler bei der wissenschaftlichen Methodik gefunden. Das ist, glaube ich, das aktuelle Problem der COVID-19-Publikationen: Die wissenschaftlichen Zeitschriften wollen möglichst schnell neue Erkenntnisse zur Verfügung stellen, aber dadurch lässt die wissenschaftliche Qualitätskontrolle, also das sogenannte Peer Review, zu wünschen übrig. Vieles, was heute zum Thema COVID-19 in sehr hochrangigen Journalen publiziert wird, hätte vor der Pandemie nicht die wissenschaftliche Qualität gehabt, berücksichtigt zu werden. Insofern müssen wir vieles, was an Erkenntnissen auch sehr schnell über die Laienpresse in die Öffentlichkeit gelangt, kritisch hinterfragen. Und die Mutation des Virus in zwei Linien ist aus unserer Sicht eine Annahme, die bislang so nicht Bestand hat.
Hat sich der Krankheitsverlauf verändert?
Prof. Pletz: Es scheint Unterschiede zu geben zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen. So ist es nicht auszuschließen, dass der Krankheitsverlauf in China ein anderer war als zum Beispiel in Norditalien. Aber möglicherweise war es auch so, dass unmittelbar zu Beginn der Pandemie die Patienten wissenschaftlich nicht so intensiv untersucht worden sind, wie später, weil die chinesischen Kollegen einfach überrannt wurden und sich zunächst um die klinische Versorgung sehr vieler Patienten kümmern mussten. In Norditalien galt das Gleiche. Aber was in den letzten Monaten immer klarer wurde: Es handelt sich nicht um eine „banale“ virale Pneumonie. Es scheint eine Multisystemerkrankung zu sein, die sich vor allem in den feinsten Blutgefäßen abspielt. Es gibt Obduktionsberichte, die Lungen von an Influenza und an COVID-19 verstorbenen Patienten miteinander vergleichen. Man fand Gemeinsamkeiten, aber auch ganz wesentliche Unterschiede. SARS-CoV-2 wurde nicht nur in den Lungenbläschen sondern in der Innenhaut der Blutgefäße in hoher Anzahl nachgewiesen. Dies führt offensichtlich dazu, dass in diesen Blutgefäßen in Folge Thromben gebildet werden, möglicherweise als eine – hier kontraproduktive – Abwehrreaktion des Körpers. Und wenn Blutgefäße verschlossen werden, führt dies immer zu Komplikationen. Auch die großen Gefäße können betroffen sein. Wir kennen Berichte von Nierenversagen, Schlaganfällen oder Herzinfarkten, die in solchen Gebieten deutlich zugenommen haben, wo das Virus in hohem Maße zirkuliert. Diese Entwicklungen erklären sich sehr gut mit der besonderen Entzündung, die sich bei COVID-19 an den Gefäßinnenwänden abspielt.
Worauf müssen wir uns in den kommenden Wochen und Monaten einstellen?
Prof. Pletz: Prognosen sind sehr schwierig, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen. Bewahrheitet hat sich die Vermutung, dass die Krankheitslast im Sommer geringer wird – hierzu gab es im Juni eine hochrangige Publikation. Das war aus meiner Sicht auch zu erwarten, weil das Virus UV-Strahlen nicht mag. Zudem wird das Virus durch den Verdünnungseffekt außerhalb geschlossener Räume nicht so schnell übertragen. Und Menschen halten sich im Sommer mehr im Freien auf. Auch höhere Temperaturen haben Einfluss. Wir sehen aktuell, wenn bei uns Sommer und auf der Südhalbkugel Winter ist, dass die Länder der Südhalbkugel sehr hart getroffen werden. Hinzu kommt noch eine Tatsache: Wir wissen von den vier sogenannten endemischen Coronaviren, die also schon seit Jahrzehnten in jedem Winter zirkulieren, dass sie im Sommer seltener auftreten. Das scheint auch auf SARS-CoV-2 zuzutreffen. Genauso müssen wir aber vermuten, dass das Virus im Winter zurückkommt. Bis dahin werden wir trotzdem immer wieder sogenannte Hotspots – kleinere Ausbrüche – sehen. Das erleben wir gerade auch in Thüringen. Das Virus gelangt in bestimmte Bereiche, zum Beispiel Altenheime, wo es sehr effizient übertragen wird. Und dadurch kann sich in der betroffenen Region die Rate an Neuinfektionen innerhalb weniger Wochen dramatisch ändern. Das Virus wird also nicht wie eine Welle gleichverteilt übers Land schwappen, sondern überall kleine Feuerstellen verursachen. Wir müssen dann darauf achten, dass daraus kein Flächenbrand wird. Und weil das Virus sehr flexibel ist, müssen wir genauso schnell und flexibel reagieren.
Das klingt wie heute so und morgen so?
Prof. Pletz: Genau. Dies den Menschen zu vermitteln, ist eine der wesentlichen und schwierigsten Aufgaben der nächsten Zeit von Politik und Medien. Genauso wie wir Regeln lockern, müssen wir sie gegebenenfalls auch rasch wieder festziehen – und zwar regional unterschiedlich, je nach Rate der Neuinfektionen. Das wird womöglich sehr schwer planbar sein und wirkt von außen dann sicher chaotisch. Das ist es aber nicht.
Die Welt wartet auf einen Impfstoff. Wie weit ist die Forschung?
Prof. Pletz: Es gibt dutzende verschiedene Impfstoffkandidaten, die untersucht werden. Dabei zeigen sich aus meiner Sicht zwei Herausforderungen: Zum einen soll der Impfstoff in kürzester Zeit in sehr hohen Dosen hergestellt werden. Wissenschaftler verfolgen hier neue Ansätze. So wird untersucht, inwieweit man statt Virusprotein die schneller vermehrbare Erbinformation des Virus als Impfstoff nutzen kann. Die zweite Herausforderung der Impfstoffhersteller besteht darin, mit der Impfung diejenigen Antikörper zu aktivieren, die schützen und nicht schaden. Wir sehen, dass die meisten Menschen nur sehr leicht erkranken oder gar keine Symptome haben, andere wiederum nach sieben bis zehn Tagen plötzlich schwer erkranken. Hier wird immer wieder diskutiert, ob bestimmte fehlgebildete Antikörper den individuellen Krankheitsverlauf sogar erschweren können. Ich bin aber sehr zuversichtlich. Impfstoffe werden deutlich genauer geprüft und sind auch deutlich sicherer als zum Beispiel Antibiotika. Wir sind heute in der Impfstoffforschung sehr weit. Bevor heute ein Impfstoffkandidat im Tier und später im Menschen geprüft wird, muss er sich erst in verschiedenen Computersimulationen bewähren. Das spart Entwicklungszeit und erhöht die Sicherheit.
Interview: Annett Lott
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