Am Beispiel der im März 2020 im thüringischen Ort Neustadt am Rennsteig verhängten Gruppenquarantäne untersuchte ein Jenaer Forschungsteam die sozialen und Kommunikationstrukturen der dörflichen Gemeinschaft in der Ausnahmesituation. In der jetzt in PLOSONE erschienenen Auswertung empfiehlt es, den engen sozialen Zusammenhalt, der kleine Orte schnell zu Infektionsclustern werden lässt, auch für die gezielte Information der Bevölkerung zu nutzen.
Jena (UKJ). Gangelt, Neustadt, Tirschenreuth – als die Coronapandemie Deutschland erreichte, standen kleine Gemeinden als Hotspots in den Schlagzeilen. Kaum vorbereitet auf eine solche Situation und unter nationaler Medienbeobachtung versuchten die Kommunen und lokalen Gesundheitsbehörden, die Ausbreitung der neuartigen Infektion einzudämmen. Wissenschaftliche Untersuchungen dieser Infektionsausbrüche trugen zum wachsenden Wissen über die Pandemie bei. Sie beschäftigten sich vor allem mit infektionsmedizinischen Aspekten und den psychologischen Folgen der Eindämmungsmaßnahmen. In der Neustadt-Studie analysierte ein interdisziplinäres Jenaer Forschungsteam auch die örtlichen sozialen und Kommunikationsstrukturen.
Für den etwa 900 Einwohner zählenden Ort Neustadt am Rennsteig in Thüringen war nach sechs Infektionsfällen im März 2020 von einem Tag auf den anderen eine strikte zweiwöchige Quarantäne verhängt worden. „Für uns entstand damit eine in mehrfacher Sicht interessante Laborsituation: Wir wollten herausfinden, wie diese Maßnahme von der Bevölkerung angenommen wurde, welche Informationsquellen am meisten genutzt wurden und was man in der Ausführung der Quarantäne und der Krisenkommunikation hätte besser machen können – auch im Hinblick auf ähnliche Situationen in der Zukunft“, so PD Dr. Dr. Petra Dickmann vom Universitätsklinikum Jena. Begleitend zur infektiologischen Neustadtstudie befragte ihre Forschungsgruppe Pandemiemanagement die erwachsene Neustädter Bevölkerung. Etwa ein Drittel beteiligte sich an der Umfrage, der auch längere qualitative Interviews folgten. In PLOSONE veröffentlichte das Studienteam jetzt zunächst eine quantitative Auswertung.
Hohe Akzeptanz – Radio ist wichtige Informationsquelle
Mit über 70% erklärte sich eine deutliche Mehrheit einverstanden mit der Quarantäne, fast 90% hatten kein Verständnis für Einwohner, die sich nicht daran hielten. Als wichtigste Informationsquellen wurden Fernsehen und Radio genannt, auch das Gespräch mit Partnern oder Nachbarinnen. Behördliche Informationen erreichten die Bevölkerung vor allem per Lautspecherdurchsagen und Handzettel, oft auch über Radio und Internet. „Im Gegensatz dazu war jedoch der direkte Kontakt mit den zuständigen Behörden, wie z.B. dem Gesundheitsamt, nicht in dem Maß möglich, wie ihn sich die Einwohner gewünscht hätten“, betont die Erstautorin Juliane Scholz. Die Medizinstudentin bearbeitet das Projekt im Rahmen ihrer Dissertation.
Obwohl die Quarantäne in Neustadt mehrheitlich akzeptiert und eingehalten worden war und sich die Hälfte der Befragten zumindest ausreichend informiert fühlte, sieht das Studienteam Verbesserungsmöglichkeiten im Hinblick auf künftige Risikokommunikation. „Dafür sollten wir auch genau die sozialen Strukturen nutzen, die Dörfer zu Hotspots machen können“, schlägt Petra Dickmann vor und erklärt: „Wir wissen von anderen Ausbrüchen im dörflichen Umfeld, dass die soziale Kohärenz, also der Zusammenhalt der Menschen im Ort, die Ausbreitung von Infektionen erleichtert und die Kontaktnachverfolgung erschwert. Nachbarn, Freunde, die Großfamilie begegnen sich so oft, dass der Kontakt nicht als Infektionsrisiko wahrgenommen wird.“
WhatsApp-Gruppe als Informations-Superspreader
Für die Information der Einwohnerschaft stellen der enge Zusammenhalt und bestehende Kommunikationsnetze gleichzeitig gute Voraussetzungen dar. In Neustadt wurde dem Studienteam von einer großen WhatsApp-Gruppe berichtet, über die Informationen zur Quarantäne ausgetauscht wurden. „Für eine effektive und vertrauenswürdige Risikokommunikation können solche etablierten Netze oder angesehene Mitglieder der Einwohnerschaft als Multiplikatoren genutzt werden“, so Petra Dickmann. Der Aus- und Aufbau einer funktionierenden Risikokommunikation sei nicht nur im Rahmen der aktuellen Corona-Pandemie wichtig, betont das Autorenteam, sondern auch im Hinblick auf zukünftige Ereignisse. Denn das fördere das Vertrauen der Bevölkerung in staatliche Institutionen und erhöhe somit die Akzeptanz und Einhaltung von Public-Health-Maßnahmen.
Originalpublikation:
Scholz J, et al. The role of risk communication in public health interventions. An analysis of risk communication for a community quarantine in Germany to curb the SARS-CoV-2 pandemic, PLoS One. 2021 Aug 13;16(8):e0256113, DOI: https://doi.org/10.1371/journal.pone.0256113
Kontakt:
PD Dr. Dr. Petra Dickmann
AG Public Health, Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Universitätsklinikum Jena
E-Mail: Petra.Dickmann@med.uni-jena.de
Tel. 03641/9323341