Auf den ersten Blick sieht man nicht, was Lennert Otto in den vergangenen fünf Jahren erlebt hat. Wenn er mit medizinischen Begriffen wie Blinatumomab, DLI oder Chimärismus jongliert, als wären es Wörter aus seiner Ausbildung zum Fertigungsmechaniker, und er alle Schwestern der kinderonkologischen Station E130 am UKJ per Vornamen grüßt, lieg die Vermutung nahe, dass es keine leichte Zeit für ihn war.
2018 stellten die Experten um Prof. Bernd Gruhn, Oberarzt an der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, den Grund für den starken Gewichtsverlust und die Schmerzen des damals 14-Jährigen fest: Er litt an akuter lymphoblastischer Leukämie, einer bösartigen Erkrankung des blutbildenden Systems. „Lennert sprach zunächst sehr schlecht auf die Chemotherapie an“, so Gruhn. Trotz einiger Unverträglichkeiten und Komplikationen waren zu Beginn des Jahres 2020 alle Leukämiezellen restlos vernichtet. Lennert konnte langsam in sein altes Leben zurückkehren – zumindest kurz.
Denn schon Mitte 2021 ging es ihm zunehmend schlechter. Starke Beinschmerzen, Übelkeit und blaue Flecken prägten seinen Alltag. „Da wusste ich gleich, dass der Krebs wieder zurück ist“, erinnert sich Lennert. Die Untersuchungen auf der Station E130 bestätigten den Rückfall: Er hatte ein spätes isoliertes Knochenmarkrezidiv. Die Leukämiezellen befanden sich ausschließlich im Knochenmark. Sofort begann die Chemotherapie – auf die Lennert wieder nicht gut ansprach. „In dieser Situation konnte ihm nur eine Stammzellspende helfen“, weiß Prof. Gruhn. „Alternativ zu einer weiteren Chemotherapie haben wir uns für eine Therapie mit dem Antikörper Blinatumomab entschieden, um die Leukämiezellen vorab gezielt zu bekämpfen.“ Direkt im Anschluss an die Antikörpertherapie sollte die Knochenmarktransplantation stattfinden.
Doch Lennert erkrankt an Covid-19. „Deshalb mussten wir die Transplantation verschieben“, sagt Prof. Gruhn. Da die Knochenmarkentnahme bei seinem passenden Fremdspender aber wie geplant stattfinden musste, wurden die Knochenmarkzellen bis zur Transplantation eingefroren. Denn das ist bei Knochenmarkzellen im Gegensatz zu Organspenden durchaus möglich „Wir versuchen es aber zu vermeiden. Denn durch das Einfrieren gehen etwa ein Drittel der Zellen verloren“, so Prof. Gruhn. Im März 2022 erhielt Lennert die Knochenmarktransplantation, damit sein Blut künftig ausschließlich aus dem gespendeten Knochenmark gebildet wird. So aber nicht bei ihm. „Bei Lennert lag ein gemischter Chimärismus vor, d.h. auch seine eigenen Zellen haben weiterhin Blut gebildet“, so Prof. Gruhn. „Das erhöht das Risiko für einen Rückfall.“ Da der Spenderanteil im Blut immer weiter sank, erhielt der mittlerweile 18-Jährige einmal monatlich Spenderlymphozyten, sogenannte DLIs. Da die Experten zusätzlich erneut Leukämiezellen im Knochenmark feststellten, ein sogenanntes molekulares Rezidiv, setzten sie auch die Antikörpertherapie fort. Sie schlug aber nicht wie gewünscht an. „Deshalb haben wir den neuartigen Antikörper Inotuzumab eingesetzt“, so Prof. Gruhn. Erst diese Therapiekombination führte dazu, dass weder eigene Zellen noch Leukämiezellen nachweisbar sind.
„Um dieses Ergebnis zu stabilisieren, soll Lennert zwei weitere Zyklen des Antikörpers Inotuzumab erhalten und sieben weitere Gaben der Spenderlymphozyten“, sagt Prof. Gruhn. Insgesamt kann er dann auf 21 Spenderlymphozyten- Gaben zurückblicken – auf so viele wie nur wenige Patienten weltweit. „Wir sind sehr zuversichtlich, ihn mit dieser Strategie dauerhaft zu heilen“, versichert Prof. Gruhn. Auch Lennert Otto ist hoffnungsvoll: „Es ist alles ok und so soll es auch bleiben“. Mit diesen Worten holt er einen Brief für seinen Spender aus der Tasche, einen jungen Mann, der nur etwa drei Jahre älter ist als er. Sie stehen in Kontakt – laut Gesetz noch anonym. Erst zwei Jahre nach der Transplantation dürfen sie sich persönlich kennen lernen. Und das werden sie – im März 2024.