Der Darm und alles, was darin vor sich geht, war lange ein Tabuthema. Inzwischen ist die Bedeutung unseres Darms für die ganzheitliche Gesundheit des Menschen jedoch unbestritten. Am Uniklinikum Jena erreichen auf diesem Gebiet sowohl die Behandlungsmöglichkeiten als auch die Forschung eine neue Qualität. Ein Gespräch mit Prof. Dr. med. Andreas Stallmach, Direktor der Klinik für Innere Medizin IV, Gastroenterologie, Hepatologie und Infektiologie am UKJ.
Wir sprechen beim Darm inzwischen vom unterschätzten Organ. Warum?
Prof. Stallmach: Im Magen-Darm-Trakt gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Zelltypen: Schleimhautzellen für die Aufnahme von Nährstoffen, Nervenzellen, Zellen, die Hormone produzieren. Hinzu kommen Zellen des Immunsystem; hier finden wir die meisten Immunzellen des Körpers. Und wir haben im Magen-Darm-Trakt die große Gemeinschaft der Mikrobiota, das ist die Gesamtheit aller Mikroorganismen. Und dieses Zusammenspiel von Nervenzellen, hormonproduzierenden Zellen, Immunzellen und Mikrobiota steuert sehr viele Stoffwechselfunktionen in unserem Körper und ist damit einerseits für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden, aber andererseits auch für die Entstehung vieler Erkrankungen verantwortlich.
Kann man daraus schlussfolgern, dass unser Darm die eigentliche Schaltzentrale für unsere Gesundheit ist?
Prof. Stallmach: Dazu gibt es sicher unterschiedliche Ansichten. Fest steht jedoch: Ohne einen funktionierenden Magen-Darm-Trakt wäre ein gesundes Leben nicht möglich. Folglich würde ich unterschreiben, dass er eine der wichtigsten Schaltzentralen im menschlichen Körper ist.
Der Darm - unser zweites Gehirn. Wie bewerten Sie diesen doch recht bildhaften Vergleich?
Prof. Stallmach: Die Frage ist tatsächlich, ob der Darm unser zweites Gehirn ist oder ob der Darm nicht sogar entwicklungsbiologisch unser erstes Gehirn ist. Wie ist das erste Leben auf der Erde entstanden? Eine der ersten komplexen Lebensformen waren sogenannte Polypen in den Meeren. Und Polypen sind nichts anderes als ein „Darmschlauch“, der von Nervenzellen umgeben ist. Beim Menschen gibt es ein komplexes Zusammenspiel von Gehirn, Rückenmark und Nervenzellen im Magen-Darm-Trakt. Das „Bauchgehirn“ ist mit seinen 100 bis 200 Millionen Neuronen größer als das Nervensystem im Rückenmark. Das „Bauchhirn“ ist so etwas wie eine Kopie des Gehirns in unserem Kopf: Beide Nervensysteme besitzen dieselben Zelltypen und nutzen sogar dieselben Botenstoffe zur Kommunikation. So kommen Neurotransmitter wie Serotonin sowohl im Kopf- als auch im Bauchgehirn vor. Im Kopf beeinflusst das „Glückshormon“ unser Wohlbefinden.
Ein vielleicht passender Vergleich zur Verdeutlichung: Alle Nervenzellen aus dem Magen-Darm-Trakt zusammengenommen ergeben etwa die Größe des Gehirns einer Katze. Jeder, der Katzen hat, weiß, wie klug sie sind und was sie alles können. Fazit: das Gehirn im Magen-Darm-Trakt ist ohne Zweifel von sehr großer Wichtigkeit und vermag eine Menge.
Wie können wir den Unterschied zwischen der eingangs erwähnten Mikrobiota und dem oft genannten Mikrobiom deutlich machen?
Prof. Stallmach: Als Mikrobiota das Magen-Darm-Traktes bezeichnen wir die Gesamtheit aller Mikroorganismen. Sie umfasst etwa 1,5 mal so viele Mikroorganismen wie wir überhaupt Zellen im Körper haben. Die Gesamtheit aller Gene dieser Mikroorganismen wird als Mikrobiom bezeichnet. Wenn wir die Erbinformationen dieser Mikroorganismen im Verhältnis zu den Erbinformationen aller unserer Körperzellen betrachten, liegt das Verhältnis bei 100 zu 10.
Zur Veranschaulichung: Würde ich als Mensch in einen großen „Smoothie Maker“ fallen und alle meine Zellen und Mikroorganismen würden gleichmäßig vermischt - die anschließende Analyse eines Molekularbiologen würde ergeben: 95 Prozent Bakterien und 5 Prozent Kontamination durch Mensch. Also die Macht der Gene im Menschen liegt eindeutig beim Mikrobiom. Und von daher ist klar, warum das Mikrobiom unzählige Stoffwechselfunktionen steuert.
Welche Rolle spielen Infektionen für unseren „Darmfrieden“?
Prof. Stallmach: Unser Immunsystem im Magen-Darm-Trakt ist darauf ausgerichtet, die Mikroorganismen zu dulden und zu akzeptieren. Eigentlich ist der Magen-Darm-Trakt überhaupt ein sehr „tolerantes Organ“. Gebe es diese Toleranz nicht, könnten wir uns nicht ernähren, weil wir dann ständig einen Krieg des Immunsystems gegen Nahrungsmittelbestandteile oder Bakterien erleben würden. Und Infektionen, das heißt das Eindringen von krankheitsauslösenden Erregern in den Magen-Darm-Trakt, stören diese Toleranz und verursachen akute, aber auch chronische Entzündungen.
Stichwort Reizdarm oder chronisch entzündliche Darmerkrankungen: Welche Auswirkungen hat Stress auf unseren Darm?
Prof. Stallmach: Das Krankheitsbild des Reizdarms ist ein sehr häufiges Krankheitsbild in Deutschland. Wir gehen inzwischen davon aus, dass zwischen 5 und 15 Prozent der Menschen zumindest zeitweilig unter den Symptomen eines Reizdarms leiden. Auch chronisch entzündliche Darmerkrankungen haben in den beiden letzten Jahrzehnten deutlich an Häufigkeit zugenommen. Mittlerweile liegt hier die Häufigkeit bei 0,7 bis 0,8 Prozent. Das heißt, auf 100 Menschen kommt etwa ein Mensch mit einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung. Viele kennen die Aussage „das Stress oder Ärger auf den Magen schlägt“. Es gibt sehr gute Studien, die zeigen, dass Stress oder Belastungssituationen die Beschwerden bei einem Reizdarmsyndrom aber auch einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung verschlechtern können. Sie sind aber nicht ursächlich für die Entstehung dieser Erkrankungen. Das heißt, sie triggern oder modulieren den Krankheitsverlauf, sie lösen diese Erkrankung aber nicht aus.
Welche Rolle spielt dabei unsere Ernährung?
Prof. Stallmach: Es ist naheliegend, dass die Ernährung beim Thema Erkrankungen des Magen-Darm-Traktes eine große Bedeutung hat. Patienten fragen auch immer wieder, wie sie sich gesünder ernähren können, um die Erkrankung zu verbessern. Beim Reizdarmsyndrom gibt es Ansätze, die Ernährung entsprechend zu gestalten. Der Verzicht auf bestimmte Getreideprodukte, insbesondere auf Weizen, kann hier beispielsweise zu einer Linderung der Beschwerden führen. Auch für Patienten mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen sprechen wir klare Empfehlungen aus. Diese Empfehlungen basieren darauf, dass die Patienten möglichst viel Gemüse und Obst essen und der Anteil an rotem Fleisch und Wurstprodukten reduziert wird. Zudem ist es hilfreich, wenn Patienten auf prozessierte Nahrungsmittel, also Fertigprodukte verzichten. Nahrungsmittel, die in hohem Maße industriell verarbeitet sind bzw. die allgemein als „fast food“ bezeichnet werden, sind ungesund. Das heißt nicht, dass wir nicht mehr ins Schnellrestaurant gehen dürfen oder die die Pizza aus dem Tiefkühlfach des Supermarktes genießen, aber bitte nur manchmal, dann vielleicht auch mit Genuss.