Jena (UKJ/as). Für den Siebenjährigen war die Sache klar. Alle sollten „Tamara“ sagen, Mama und Papa von ihrer „Tochter“ sprechen, der Bruder von seiner „kleinen Schwester“. Wo der alte Name auftauchte, den die Eltern ihrem Sohn zur Geburt gegeben hatten, überklebte ihn das Kind mit einem Tiersticker. Manche Kinder merken bereits im Grundschulalter, dass sich ihre Identität anders entwickelt, als es ihre äußere Erscheinung vermuten lässt. Dabei geht es nicht um eingefahrene Vorstellungen von Jungen, die nur noch mit Puppen spielen und Prinzessinnenkleider tragen. Oder Mädchen in Ritterrüstungen. „Es gibt keine standardisierten Tests – was auch gut so ist“, sagt Prof. Florian Zepf, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am UKJ. Die sogenannten Transgender-Kinder leben einfach mehr und mehr in der neuen Rolle. Durch ihre Vorlieben, die Wahl ihrer Freunde zeigen sie: Genau so möchte ich leben. Auch wenn diese Orientierung vielleicht nicht eindeutig ist, was die klassischen Rollenbilder betrifft.
Dass sich die Geschlechtsidentität nicht mit den körperlichen Geschlechtsmerkmalen deckt, ist keine psychische Störung oder Erkrankung. „Unsere Persönlichkeit verändert sich kontinuierlich im Laufe unseres Lebens“, so Prof. Zepf. Und sie ist vielschichtig – manchmal auch widersprüchlich. Dennoch sieht der Kinderpsychiater immer mehr dieser Kinder in seiner Klinik. „Und es ist gut, wenn sie zu uns kommen, wenn Fragen bestehen“, so Prof. Zepf.
Manche Kinder, wie Tamara, wissen sehr genau, womit sie sich identifizieren. Sie wünschen sich eine Beratung zu den Fragen des Alltags: Wie erkläre ich es Mitschülern und Lehrern? Wo ziehe ich mich vor dem Sportunterricht um? Welche Toilette soll ich benutzen? Wenn Familie und Schule verständnisvoll reagieren, kann die Entwicklung für das Kind sehr positiv verlaufen. Nicht selten ist es jedoch das Umfeld, das mit dem Identitätsausdruck des Kindes nicht klarkommt. Wenn sich die Jungen und Mädchen nicht verstanden fühlen, können psychische Probleme entstehen – beispielsweise Depressionen, manchmal auch Suizidversuche. Dann sind die Kinderpsychiater gefragt, die Kinder dabei zu unterstützen, mit ihrer Lebenssituation besser klarzukommen.
Verständnisvolle oder überforderte Eltern, ein unterstützendes oder ein diskriminierendes Umfeld, große Klarheit oder große Krise. Die Szenarien sind sehr unterschiedlich – und damit auch die Herausforderungen. Wie soll ich mich fühlen? Manchmal sind sich die Jungen und Mädchen darüber auch gar nicht im Klaren. Dann ist Zeit nötig. Manchmal mehr als die biologische Entwicklung es zulässt. „Mit dem Beginn der Pubertät kommt es oft zu besonderen Belastungssituationen“, so Prof. Zepf. Das Gefühl, im falschen Körper zu stecken, setzt die Jungen und Mädchen extrem unter Druck. Mit Medikamenten können die Experten den Beginn der Pubertät verzögern. Das Team der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie arbeitet hier eng mit Dr. Claudia Vilser, Hormonexpertin an der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, zusammen.
Wenn nach einer langen Zeit der Begleitung und Beratung die Entscheidung gefallen ist, können die Mediziner mit Hormonen intervenieren. Nicht behandeln, wie Prof. Zepf betont, weil die Kinder eben nicht krank sind. Mit Testosteron beziehungsweise Östrogen kann die gewünschte körperliche Entwicklung ausgelöst werden. Frühestens, wenn die Jugendlichen volljährig sind, kann dann noch eine geschlechtsangleichende Operation stattfinden. Über die verschiedenen Möglichkeiten beraten die Experten intensiv in einer neuen Spezialsprechstunde. Der Kinderpsychiater versteht sich als Vermittler, Zuhörer, Berater. Trans-Jungen und Trans-Mädchen seien sehr verletzlich. „Sie brauchen Hilfe – nicht nur, wenn eine psychische Begleitsymptomatik wie Depressionen, Schlaf- oder Konzentrationsstörungen vorliegt." Ein wichtiges Anliegen ist es Prof. Zepf, den jungen Menschen Methoden zu vermitteln, wie sie anderen das eigene Identitätsgefühl besser erklären können.
Verschiedene Identitätsformen habe es schon immer gegeben, ist sich der Experte sicher. Dass die Zahl der Kinder zunimmt, die mit Identitätsfragen eine Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie aufsuchen, sieht er als Folge zunehmender Akzeptanz. „Heute hört die Gesellschaft eher zu“, so Prof. Zepf. Bisher hatten diese Kinder keine Lobby und damit keine Chance, sich zu äußern. Er sieht Parallelen zur Homosexualität. Zwar handelt es sich hierbei um eine sexuelle Orientierung, doch die männliche Homosexualität wurde ebenfalls lange Zeit als krankhaft eingestuft. Bis 1969 stand sie in der Bundesrepublik Deutschland sogar generell unter Strafe. Noch heute werden in vielen Ländern Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert und verfolgt. Bis zum Jahr 2018 wurden Transgender-Menschen im internationalen Krankheitskatalog der WHO der Gruppe der „psychischen und Verhaltensstörungen“ zugeordnet. Erst nach einer Überarbeitung wird nun von einer „Geschlechtsinkongruenz“ und nicht mehr von einer Erkrankung gesprochen. Befragungen hätten eindeutig gezeigt, dass Betroffene psychisch viel stärker unter der sozialen Ausgrenzung leiden als unter den direkten Folgen ihrer Geschlechtsidentität. „Die Entwicklung beim Thema Homosexualität zeigt, dass es Zeit braucht, bis sich vermehrt eine gesellschaftliche Akzeptanz ausbildet“, so Prof. Zepf. Dies sei nun auch beim Thema der Identitätsentwicklung zu beobachten. „Jeder sollte frei sein, sich für seine eigene Identität entscheiden zu können.“