Im Fokus der neuen Ausgabe des Klinikmagazins steht die Intensivmedizin. Selten wurde über Intensivmedizin so viel gesprochen und geschrieben wie in den vergangenen Monaten der Pandemie. Aber warum stand sie so im Fokus? Und was macht moderne Intensivmedizin heute aus? Ein Gespräch mit Prof. Dr. Michael Bauer. Er leitet am Universitätsklinikum Jena (UKJ) die Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin.
Hat die Pandemie der Intensivmedizin eine neue Bedeutung gegeben?
Prof. Bauer: Ja, ich denke schon. Wir haben zum ersten Mal sehr deutlich gesehen, wie zentral die Intensivmedizin für die Funktion eines ganzen Krankenhauses ist, wenn diese Ressource plötzlich zum Flaschenhals wird für die Patientenflüsse. Da wir sehr viele Betten mit COVID-19-Patienten belegt hatten, war für den üblichen klinischen Alltagsbetrieb viel zu wenig Kapazität. Die Auswirkungen haben wir in vielen Abteilungen gesehen: Operationen mussten verschoben, planbare Termine nach hinten verlegt werden. Auch Planungen zwischen verschiedenen Krankenhäusern wurden notwendig, um die wichtigsten und dringlichsten Behandlungen außerhalb von COVID-19 möglich zu machen.
Mit Intensivmedizin verbinden wir oft Bilder wie Apparate, Schläuche und schwerstkranke Menschen, die oftmals zwischen Leben und Tod schweben. Was macht für Sie Intensivmedizin aus?
Prof. Bauer: Das Geheimnis ist, dass wir Intensivmedizin nicht als Apparatemedizin betreiben, sondern den ganzen Menschen hinter seiner jeweiligen Erkrankung sehen. Dabei ist zum einen die Komplexität und das Ineinandergreifen der verschiedenen Organsysteme faszinierend – also zum Beispiel die Frage, warum schwere Infektionen zum Nierenversagen führen. Zum anderen sehen wir Menschen in einem Grenzbereich, in dem wir auch die Familie, die Patientenwünsche, die Fragen, wie wir leben und wie wir sterben, gemeinsam reflektieren. Zu all diesen Fragestellungen kommt die Betreuung der gesamten Familie hinzu, die plötzlich und unerwartet mit solch einer Situation konfrontiert wird. Meist ist keiner darauf vorbereitet, selbst wenn man vielleicht Vorsorge getroffen hat. In solchen Momenten ist die gesamte Familie oft überfordert, nicht nur der Patient. Deshalb haben wir am UKJ eine sehr breite Infrastruktur geschaffen. Dazu zählt unter anderem auch, die besondere Form der Betreuung durch eigene Psychologinnen sicherzustellen. Das hat uns besonders in der Pandemie sehr geholfen. Und viel verdeutlicht. Allein der Umstand, dass Angehörige über Wochen ihre Lieben nicht besuchen konnten. Wenn das plötzlich nicht mehr geht, dann wird uns die gesamte psychosoziale Belastung für Familie und Patient offenbart. In diesen Augenblicken waren wir die „Brücke“ oder Verbindung zwischen beiden.
Intensivmedizin gab es ja schon weit vor Corona. Richtig verstanden behandeln Intensivmediziner Krankheiten aller Fachbereiche und davon die schwersten Verläufe? Ist das der Reiz oder gar Anspruch?
Prof. Bauer: Es ist tatsächlich so, dass wir sehr häufig in der Schnittmenge verschiedener Disziplinen aktiv werden. Wir haben immer wieder Patienten, bei denen ein Zusammenspiel von verschiedenen Disziplinen im „Konzert“ auf der Intensivstation erforderlich wird. Und das ist auch der besondere Charme der Intensivmedizin: ob zentrales Nervensystem, Lunge, Niere oder ein anderes lebenswichtiges Organ. Wir müssen stets die Interaktion der verschiedenen Organsysteme betrachten. Aus diesem Blickwinkel heraus gelangen wir sehr schnell zu einem interdisziplinären Zusammenarbeiten. Eine Uniklinik bietet dafür hervorragende Strukturen. Und die Patienten profitieren extrem davon, dass nicht nur ein Spezialist für ein Organ da ist, sondern dass jemand die Gesamtschau im Auge behält für das Zusammenspiel der verschiedenen Organe. Das Kernproblem der modernen Intensivmedizin seit den 70er Jahren ist das Multiorganversagen. Das bedeutet, ein Organ arbeitet initial schlecht und wie ein Dominoeffekt fallen die anderen Organe der Reihe nach um beziehungsweise aus. Ein Beispiel mal ganz einfach erklärt: Wenn das Herz versagt, kommt es zu Flüssigkeitsansammlungen in der Lunge. Diese versagt in der Folge. Was passiert? Die Niere wird nicht mehr ausreichend durchblutet. Es kommt zum Nierenversagen. Naja, und danach wird die Prognose immer schlechter. Diesen Teufelskreis zu durchbrechen – das ist die Kernkompetenz der Intensivmedizin.
Wie definieren Sie die Kernaufgaben der Intensivmedizin?
Prof. Bauer: Wir haben zwei Gruppen von Patienten: die einen sind die geplanten Aufnahmen, bei denen tatsächlich die Überwachung im Vordergrund steht, um schwerwiegende Komplikationen zu verhindern. Das sind Patienten nach der sogenannten großen Chirurgie oder bei Gefäßinterventionen, die postinterventionell überwacht werden, bis sie wieder so stabil sind, dass sie auf Normalstation verlegt werden können. Eine intensivmedizinische Therapie zielt auf die Unterstützung bereits ausgefallener Organe. Das heißt, neben der Überwachung der Vitalfunktionen oder auch lebenswichtiger Funktionen ist die Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung von reversibel ausgefallenen Organfunktionen eine weitere sehr wichtige Aufgabe. Zwei Beispiele: Beim Lungenversagen kommt die Beatmungstherapie zur Anwendung und ein Entgiftungsversagen braucht unter Umständen die Dialysetherapie. Wir unterstützen den Kreislauf zudem mit Medikamenten, damit die Sauerstoffversorgung aller lebenswichtigen Organe aufrechterhalten werden kann. Das sind die Kernaufgaben: überwachen und verhindern, dass Schlimmeres passiert, wie das beschriebene Organversagen. Wenn dieser Fall aber dennoch eintritt, dann gilt es, die Zeit zu überbrücken. Wir können hier wenig kausal behandeln. Wir können aber dem Körper die Zeit „kaufen“, die er braucht, um seine Vitalfunktionen selbst wieder herstellen zu können.
Ihre Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin ist eine der größten Kliniken am UKJ. Was unterscheidet Intensivmedizin an einer Uniklinik beispielsweise von der an einem kleinen Krankenhaus?
Prof. Bauer: Eine Universitätsklinik wird daran gemessen, Schwerstkranke behandeln zu können, aus jedem Fachgebiet. Die moderne „High-End-Therapie“, zum Beispiel Transplantationsmedizin, um das Paradebeispiel zu nennen, geht beispielsweise ohne Intensivmedizin nicht. Um das oberste Level der heutigen medizinischen Möglichkeiten und einer adäquaten Behandlung auszuschöpfen – dazu braucht es das ganze Potential einer hochspezialisierten Intensivmedizin. Genau das zeichnet, neben anderen besonderen Merkmalen wie Forschung und Lehre, Universitätsmedizin aus. Zentral ist auch die Zusammenarbeit mit der Pflege. Gerade auf der Intensivstation werden Patientinnen und Patienten nicht nur in ärztlicher Teamarbeit, sondern in multiprofessionalen Teams behandelt. So ist die Pflege sehr viel näher am Patienten dran als die ärztlichen Kolleginnen und Kollegen, so dass die gemeinsame Kommunikation immer wichtiger wird.
Zurück zur Pandemie: Muss sich die Intensivmedizin für die kommenden Jahre anders aufstellen?
Prof. Bauer: Ja. Es wird in diesen Tagen klar, dass wir mit der Impfung und den AHA-Regeln in einen Zustand kommen werden, der uns die akute Phase der Pandemie überstehen lässt. Aber wir müssen immer wieder mit dem Aufflackern von SARS-CoV-2, Stichwort Mutanten, rechnen. Wir werden Patienten haben, die sich nicht impfen lassen werden. Und wir müssen natürlich auch mit anderen Pandemien rechnen. Wir hatten mehrfach schon Glück: die Schweinegrippe, die Vogelgrippe … . Insgesamt gibt es eine Reihe von Krankheiten, die durchaus aus dem Ruder laufen können. Und wir haben jetzt erlebt, wie rasch das gehen kann, angefangen bei den ersten Berichten aus Wuhan bis zu den weltweit dramatischen Ereignissen. Das bedeutet: Wir müssen einfach darauf vorbereitet sein, dass wir immer wieder mit sehr schweren Verläufen konfrontiert werden. Wir haben durchaus Fortschritte gemacht in der Prophylaxe der Erkrankung, speziell mit der Impfung als dramatische Chance, die Pandemie in den Griff zu bekommen. Wenn jemand das Krankheitsbild aber dennoch entwickelt, haben wir dafür derzeit noch keine wirklich guten Therapiemöglichkeiten. Da arbeiten wir mit Hochdruck daran, auch am UKJ.
Können Sie das näher beschreiben?
Prof. Bauer: Wir nutzen Therapiemöglichkeiten aus anderen Fachbereichen, indem wir Medikamente umwidmen. „Repurposing“ ist hier das Schlagwort. Hier arbeiten wir ganz intensiv mit der Klinik für Innere Medizin IV von Professor Andreas Stallmach zusammen. Das bedeutet, viele der Medikamente, die wir aus den Bereichen der chronisch entzündlichen Darmerkrankungen oder auch der Rheumatologie kennen und dort erfolgreich einsetzen, nutzen wir zur Therapie bei COVID-19-Patienten. Und diese erfolgreiche Zusammenarbeit, in der es um ganz innovative Therapiemöglichkeiten geht – abgeleitet aus anderen, schon bekannten Krankheitsbildern – das zeichnet Universitätsmedizin aus: Expertisen aus den einzelnen Kliniken gezielt an einem Bett zusammenbringen. Und das erlaubt es dann auch, die Grenzen in der modernen Medizin weiter zu verschieben. Dinge, die bisher nicht behandelbar waren, machen wir damit behandelbar.
Sie sind seit 30 Jahren Intensivmediziner. Was raten Sie einem angehenden Arzt, der sich für die Intensivmedizin entscheidet?
Prof. Bauer: Intensivmedizin ist eine ganz faszinierende Sparte in der Medizin, hochinterdisziplinär. Man kann sich ihr aus ganz verschiedenen Fachrichtungen heraus widmen, zum Beispiel aus der Inneren Medizin, der Chirurgie heraus oder der Anästhesie. Intensivmedizin ist in Deutschland derzeit kein eigener Facharzt, sondern eine Zusatzbezeichnung. Wer das also machen will als Schwerpunkt, der braucht eine Art Mentor, jemanden, der ihn auch ein bisschen an die Hand nimmt, weil es, wie gesagt, ein hochinterdisziplinäres Feld mit schwierigen Karriereperspektiven ist.
Interview: Annett Lott
Kontakt
Prof. Michael Bauer
Direktor der Klinik für Anästhesiologie
und Intensivmedizin
Tel. 03641 9-32 31 01
Zum Klinikmagazin: Seit mehr als 20 Jahren existiert das Klinikmagazin des Universitätsklinikums Jena. Es erscheint vierteljährlich und stellt aktuelle Themen aus Medizin und Pflege vor, nennt Ansprechpartner am UKJ und blickt auch hinter die Kulissen von Thüringens größter Klinik. Die Online-Version des Magazins (Ausgabe 02/2021) ist hier zu finden: https://www.uniklinikum-jena.de/Klinikmagazin.html Auch ältere Ausgaben sind online abrufbar. Das Klinikmagazin kann außerdem kostenlos bestellt werden: Einfach per Mail an oder per Telefon unter der Telefonnummer: 03641/9-391181.