Jena (UKJ/kbo). Den echten Patientenkontakt kann im Medizinstudium zwar nichts ersetzen. Neue Einblicke in und ein besseres Verständnis für Krankheitsbilder erlangen können Medizinstudierende am Uniklinikum Jena (UKJ) aber auch mit virtuellen Patienten: mithilfe der App „Augmented Rheumality“, die PD Dr. Alexander Pfeil, Oberarzt in der Klinik für Innere Medizin III (Direktor: Prof. Dr. Gunter Wolf, MHBA) erstmalig im studentischen Unterricht eingesetzt hat. Entwickelt wurde die App in Kooperation mit den rheumatologischen Universitätskliniken Erlangen und Gießen / Bad Nauheim. In der App werden reale Patienten mit echten rheumatologischen Krankheitsbildern zu virtuellen Avataren und ermöglichen den Studierenden eine Zeitreise durch Knochen und Gelenke. Das Konzept der Augmented Reality, also der erweiterten Realität, auf die Rheumatologie-Lehre anzuwenden, macht das UKJ bislang als erstes Uniklinikum weltweit. Rheumatologe Pfeil geht neue Wege, um den medizinischen Nachwuchs für sein Fachgebiet zu begeistern. „In der Rheumatologie hat sich in den vergangenen Jahren unheimlich viel entwickelt. Das kann die „Augmented Rheumality“ den Studierenden ganz hervorragend zeigen“, sagt er.
Zeitreise durch Knochen und Gelenke
Aber wie sieht so eine Reise durch die Knochen aus? Sobald die Studierenden die App auf ihrem Smartphone starten, befinden sie sich in der Augmented Rheumality. Drei Patienten erscheinen auf dem Bildschirm, jeder und jede mit seiner rheumatologischen Krankengeschichte. Bislang sind drei Krankheitsbilder in die App eingespeist, so unter anderem Rheumatoide Arthritis. Dafür steht Avatar Brigitte, 50 Jahre alt. Ihre Krankenakte erscheint auf dem Bildschirm. 2013 stellt sie sich erstmals mit geschwollenen Gelenken in der Klinik vor. Die Studierenden können Brigittes Röntgen- und hochauflösende CT-Aufnahmen der Fingergelenke sehen. Aber eben nicht nur als Bildaufnahme, wie sie aus der Radiologie üblich sind, sondern als dreidimensionales Modell. Die angehenden Medizinerinnen und Mediziner können nun in die Knochen und Gelenke von Avatar Brigitte zoomen, sie schwenken und aus jedem Winkel betrachten. Und sie können – und das macht die Anwendung besonders lehrreich – dabei den Krankheitsverlauf und die Wirkung unterschiedlicher Medikamente vergleichen. Wo zu Beginn der Erkrankung noch größere Erosionen in Patientin Brigittes Gelenken zu sehen sind, haben diese sich deutlich gebessert, nachdem Brigitte eine innovative Basistherapie gegen ihre Rheumatoide Arthritis erhalten hat. Real sichtbar zu machen, wie sich die Erkrankung und erfolgreiche Behandlung bei der Patientin tatsächlich abgespielt hat, schafft die Augmented Rheumality. „Dieser besondere Einblick ins Innere zeigt unseren Studierenden auf, warum es so wichtig ist, Patienten frühzeitig und mit den richtigen Medikamenten zu behandeln“, erklärt Pfeil. Und noch einen Vorteil bringt die Smartphone-Anwendung: Die Studierenden können sie auch zuhause nutzen und somit ihr erlerntes Wissen selbstständig vertiefen.
Erstmals angewendet wurde das neue digitale Lehrverfahren im Sommersemester beim sogenannten Rheumatologiepraktikum im achten Fachsemester der Humanmedizin. Die Entwicklung und Anwendung der „Augmented Rheumality“ ist vor allem der Corona-Pandemie geschuldet. Die machte es noch schwieriger als ohnehin schon, reale Patienten für den Unterricht zu gewinnen. Denn der Aufwand ist groß, geeignete Patienten mit unterschiedlichen rheumatologischen Krankheitsbildern zu finden, die Zeit haben und bereit sind, auch längere Anfahrtszeiten auf sich zu nehmen. Die App macht die virtuellen Patienten dauerhaft verfügbar. „Eine riesige Erleichterung“, findet Pfeil. Daher wird das Lehrkonzept auch über Corona hinaus Bestand haben. Zumal die Augmented Rheumality bei den Studierenden auch hervorragend ankommt.
Kommt gut bei Studierenden an
Pfeils neues Lehrkonzept wurde von über 240 Studierenden ausgewertet. Das Fazit ist durchweg positiv: Über 80 Prozent der Studierenden bewerteten die Augmented Rheumality mit acht bis zehn von möglichen zehn Punkten. Vor allem aber haben 99 Prozent der Studierenden angegeben, dass ihnen die Rheumality ein besseres Erkrankungsverständnis verschafft hat und 90 Prozent, dass die Anwendung ihr Wissen über die rheumatologischen Krankheitsbilder erweitert hat. Pfeil und seine Kooperationspartner planen daher, die App um andere rheumatologische Erkrankungen zu erweitern. „Dann wird zum Beispiel auch der Blick in Organe und Gefäße statt nur Knochen und Gelenken möglich sein. Denn Rheuma betrifft bei Weitem nicht nur Gelenke, sondern kann nahezu jedes Organ betreffen.“
In Deutschland leiden circa 2 Millionen Patienten an entzündlich rheumatischen Erkrankungen. Dabei kann jede Altersgruppe von rheumatischen Erkrankungen betroffen sein. Die Erkrankungen verlaufen meistens chronisch und bedürfen einer lebenslangen Behandlung. Für eine optimale Versorgung werden deutlich mehr Rheumatolog:innen in Deutschland benötigt. „Gute Lehre ist einfach wichtig, wenn nicht das wichtigste Instrument, um medizinischen Nachwuchs zu gewinnen. Daher freut es mich, dass die „Augmented Rheumality bei den Studierenden so gut ankommt und vielleicht den einen oder die andere so den Weg in die Rheumatologie findet“, sagt Pfeil.