Botulinumtoxin
Welche Indikationen für die Anwendung von Botulinumtoxin werden behandelt?
Was ist Botulinumtoxin?
Das unter dem Präparatenamen Botox in der Schönheitsbranche bekannte Botulinumtoxin ist ein starkes Nervengift. Der Name stammt aus dem Lateinischen - botulus = Wurst und toxin = Gift. In stark verdünnter Form findet das Gift in der Medizin als Medikament z. B. bei Überaktivität von Muskeln Anwendung. Von allen bekannten Giften ist Botulinumtoxin das giftigste. Gebildet wird das Toxin von Bakterien. Früher fanden diese Bakterien in nicht optimal konservierten Lebensmitteln - vor allem in eingemachten Bohnen oder eben in der Wurst - hervorragende Wachstumsbedingungen.
Dies konnte zu einer als Botulismus bezeichneten lebensbedrohlichen Lebensmittelvergiftung führen. Interessanterweise wurde der Botulismus 1817 von dem bekannten schwäbischen Dichter Justinus Kerner das erste Mal wissenschaftlich beschrieben. Mit diesem historischen Hintergrund hat das von uns eingesetzte Botulinumtoxin letztlich nur den Wirkmechanismus gemein: Das Gift lässt Muskeln für eine bestimmte Zeit erschlaffen. Botulinumtoxin blockiert dabei die Übertragung vom ansteuernden Nerv auf den zugehörigen Muskel oder auf die Speicheldrüse, Schweißdrüse oder Tränendrüse. Andere Nervenfunktionen - wie das Fühlen oder Tasten - werden nicht beeinflusst.
Es existieren mehrere medizinische Präparate, die Botulinumtoxin enthalten und für die Behandlung beim Menschen zugelassen sind: unter anderem Botox®, Dysport®, Xeomin®, Vistabel® und Neurobloc®. Die Medikamente wirken dabei nicht dauerhaft, sondern abhängig von der Erkrankung mehrere Monate bis ein Jahr lang. Nach einer therapeutischen Injektion baut sich die Wirkung langsam auf und erreicht nach ca. 10 Tagen ihren Höhepunkt. Durch Aussprossung neuer Nervenendigungen werden die Muskeln wieder aktiv.
Blepharospasmus/Meige-Syndrom
Der Blepharospasmus (Lidkrampf) äußert sich in einem unwillkürlichen Zusammenziehen der Augenschließmuskeln. Außenstehende nehmen dies als unkontrollierbares Blinzeln - meist beider Augen - wahr. Für die Patienten wird Sehen im Alltag oft zum Problem: Die Muskelstörung lässt Tätigkeiten wie das Lesen oder Autofahren kaum mehr zu. Manchmal können auch die Augenlider gar nicht mehr geöffnet werden.
Die Kombination von Lidkrampf und Verkrampfungen der Kaumuskeln und Muskeln der unteren Gesichtshälfte (oromandibuläre Dystonie) wird als Meige-Syndrom bezeichnet. Benannt ist die Erkrankung nach dem Arzt Henry Meige, der das Krankeitsbild 1910 ausführlich beschrieb, oder nach dem Gemälde des flämischen Malers Pieter Brueghel "Der Gähner" aus dem 16. Jahrhundert als Brueghel-Syndrom bezeichnet. Der Betroffene hat mit unkontrollierbarer Kau- und Zungenmuskulatur, Gesichtsmuskulatur sowie unwillkürlichen Lidkrämpfen zu kämpfen. Sprechen und Schlucken können erheblich beeinträchtigt sein.
Der Blepharospasmus stellt eine der häufigsten Indikationen für den Einsatz von Botulinumtoxin dar. Vor der Einführung von Botulinumtoxin standen lediglich wenig hilfreiche (Hypnose, Biofeedback, Akupunktur, Physiotherapie) und stellenweise belastende Therapiemaßnahmen (u. a. Operation) zur Verfügung. Andere medikamentöse Therapien führen nur bei einem Teil der Patienten zu einem Erfolg. Die Ergebnisse mit Injektionen von Botulinumtoxin sind bedeutend besser (gute Besserung in mehr als 90% der behandelten Fälle). Die Behandlung mit Botulinumtoxin gilt international als Therapie der Wahl.
Spasmus hemifacialis
Der Spasmus hemifacialis ist eine Bewegungsstörung, die sich durch unwillkürliches Zusammenzucken der Gesichtsmuskulatur einer Gesichtshälfte bemerkbar macht. Männer und Frauen können betroffen sein, am häufigsten ist die Erkrankung jedoch bei Frauen über dem 40. Lebensjahr. Ein häufiges Frühsymptom sind unwillkürliche Zuckungen des Unterlides. Nach und nach können anschließend sämtliche mimischen Muskeln einer Gesichtshälfte mitbetroffen sein. Die Erkrankung kann durch verschiedene Störungen des betroffenen Gesichtsnerven (Nervus facialis) ausgelöst werden. Blutgefäße im Inneren des Schädels, die dem Nerven Unnatürlicherweise direkt anliegen, konnten beispielsweise als auslösende Ursache erkannt werden.
Im Laufe der Erkrankung wird das Zucken häufig schlimmer, insbesondere, wenn man sich beobachtet fühlt, bei Aufregung oder besonderer Konzentration. Der Spasmus hemifacialis breitet sich jedoch nicht auf andere Muskeln aus. Die Erkrankung ist nicht heilbar. Nur selten tritt eine spontane Besserung auf. Eine ursächliche Behandlung ist nur in wenigen Fällen möglich. Dies ist die operative Beseitigung eines auf den Gesichtsnerv drückenden Blutgefäßes. Dazu muss eine neurochirurgische Operation mit Eröffnung des Schädels vorgenommen werden, die nicht frei von Komplikationen ist.
Seitdem die Behandlung mit Botulinumtoxin zur Verfügung steht, kann man die Operation nur noch in seltenen Fällen empfehlen. Die Injektion von Botulinumtoxin gilt als Gold-Standard, weil sie außerordentlich erfolgreich ist. Tabletten helfen bei dieser Erkrankung nicht. Eine Psychotherapie ist auch wenig sinnvoll, hier können lediglich bestimmte Bewältigungstechniken erlernt werden. Ernährungsvorschriften, Entgiftungen, Beseitigung von Amalgam, und weitere "Behandlungen", kosten in erster Linie bloß Ihr Geld. Hiervor möchten wir warnen. Geben Sie Ihr Geld lieber für die angenehmen Dinge des Lebens aus.
Hypertrophe mimische Falten
Dieses Thema ist in der Öffentlichkeit außerordentlich präsent,
"Botox - Eins, zwei, drei - faltenfrei! Krähenfüße? Zornesfurchen? Weg damit. Schon Mittdreißiger lassen sich mit schnellen Gesichtsglättern auffrischen. Der neueste Trend: Botox. Ein Nervengift, das Runzeln lahm legt."
(Quelle: Stern-Online)
Von einem unkritischen Umgang außerhalb von Behandlungszentren raten wir allerdings ab. In der Hand des erfahrenen Anwenders ist die Behandlung mit Botulinumtoxin sicher und meistens sehr zufrieden stellend. Stirnfalten sind häufig nicht nur Zeichen von Hautalterung, sondern vor allem Ausdruck von Anspannung, Ablehnung und Zorn (sämtlich negativ assoziierte Gefühlsäußerungen), weshalb viele eine Behandlung wünschen um wieder so freundlich auszusehen, wie sie doch eigentlich sind.
Bei optimaler Therapie sieht das Gesicht nach der Therapie keineswegs erstarrt aus, sondern die Patienten sehen objektiv jünger, zufriedener, weniger ängstlich und weniger traurig aus. Falten, die als Folge einer Hautatrophie im höheren Alter oder bei Rauchern oder bei Langdauernder intensiver Sonneneinstrahlung entstehen, können nicht mit Botulinumtoxin behandelt werden. Hier bieten wir die Behandlung mit Füllstoffen an, die unter die Haut gespritzt werden. Die Gabe von Botulinumtoxin bei mimisch bedingten Falten erfolgt allerdings außerhalb der medizinischen Indikation. Die Behandlungskosten richten sich dann vor allem nach der verbrauchten Menge des Medikamentes.
Spasmodische Dysphonie/Laryngospasmus
Die spasmodische Dysphonie (im älteren Schrifttum als "spastische Dysphonie" oder "Stimmstottern" bezeichnet) ist eine schwere Stimmstörung ohne bekannte Ursache. Der Schweregrad der Erkrankung reicht über leichte Formen, die sich in einem "Steckenbleiben" der Stimme und dadurch einer Störung des Redeflusses äußern bis hin zu schwersten Formen, die eine sprachliche Kommunikation für den Betroffenen unmöglich machen. Die Folgen sind nicht selten gesellschaftliche Isolation und Berufsunfähigkeit.
Der Laryngospasmus ist eine Atemnot verursachende Verkrampfung beider Stimmlippenmuskeln. Etwa drei bis fünf Prozent aller Asthmatiker haben eine solche Störung. Wenn heftige Atemnotzustände plötzlich, vor allem bei der Einatmung, auftreten und nur wenige Sekunden bis maximal zwei Minuten anhalten; besteht der Verdacht auf einen Laryngospasmus. Die Atemnot-Attacken können täglich auftreten oder nur selten im Jahr. Manchmal sind die Atemnotzustände derart massiv, dass Patienten regelrechte Todesängste haben. Diese Sorge ist jedoch unbegründet, da bisher keine Todesfälle im Zusammenhang mit einer Stimmband-Dysfunktion bekannt geworden sind. Vielen Patienten mit dieser Symptomatik kann erfahrungsgemäß allein dadurch geholfen werden, dass man sie beruhigt und ihnen erklärt, wie die Atemnot-Attacken zustande kommen.
Bei der spasmodischen Dysphonie und Laryngospasmus ist die Injektion von Botulinumtoxin mittlerweile die Therapie der Wahl. Die Spritze kann entweder unter EMG-Kontrolle duch die Haut des Halses von außen in die Stimmlippen eingestochen werden oder durch den Mund in die Stimmlippen im Kehlkopf eingeführt werden. Ein stationärer Aufenthalt ist nur äußerst selten nötig. Die meisten Patienten können nach einer 15-30 minütigen Behandlungsdauer direkt wieder nach Hause gehen.
Schluckstörungen bei cricopharyngeus-Hypertrophie
Eine reduzierte muskuläre Entspannung oder Dehnbarkeit sowie Fibrose, Hyperplasie und Hypertrophie im Bereich des oberen Schlundschnürers (musculus cricopharyngeus) ist eine der vielen möglichen Ursachen einer Schluckstörung (Dysphagie). Patienten, die sich mit einer Schluckstörung bei uns vorstellen, werden immer interdisziplinär behandelt. Nur selten ist die Hypertrophie des Musculus cricopharyngeus als Ursache einer Schluckstörung zu identifizieren. Dann allerdings ist die Behandlung mit Botulinumtoxin außerordentlich erfolgreich. Die Behandlung wird in Vollnarkose durchgeführt. Die Injektion kann unproblematisch wiederholt werden. Der Eingriff ist immer nur Teil eines Therapiekonzeptes, bei dem die funktionelle Schlucktherapie einen wesentlichen Anteil hat.
Kauschwitzen (Frey-Syndrom) nach Operation der Ohrspeicheldrüse
Das Kauschwitzen (Frey-Syndrom oder Synonyme: aurikulotemporales Syndrom, gustatorisches Schwitzen, gustatorische Hyperhidose) erhielt Anfang des letzten Jahrhunderts seinen Namen durch die polnische Neurologin Lucja Frey, die einen jungen Mann untersuchte, der aufgrund einer Schnittverletzung im Bereich der Ohrspeicheldrüse ein Schwitzen während des Verzehrs von jeglichen Speisen entwickelte, siehe auch:
The woman behind Frey's syndrome: the tragic life of Lucja Frey. Laryngoscope. 2004 114(12):2205-9.
Tragischerweise wurde sie im Warschauer Ghetto durch deutsche Nationalsozialisten ermordet.
In nahezu 100 Prozent der Fälle lässt sich nach operativer Entfernung der Ohrspeicheldrüse durch den so genannten Jod Stärke-Test nach Minor ein Frey-Syndrom nachweisen. Der Test beruht auf einer einfachen Jod-Stärke-Reaktion, über welche schwitzende Bereiche gut dargestellt werden können. Das Syndrom ist neben dem bekannten Schwitzen auch durch weitere Symptome wie Hautrötung (gustatory flushing), Kribbeln, Schwellungsgefühl bis hin zum Hautbrennen gekennzeichnet. Nach Injektion von Botulinumtoxin wird die Fläche des betroffenen Hautareals vermindert. Dieser Effekt hält bis zu 18 Monate nach der Therapie an.
Hypersalivation
Hypersalivation ist der medizinische Begriff für vermehrten Speichelfluss aufgrund gesteigerter Speichelproduktion oder durch das Unvermögen, Speichel abzuschlucken. Eine Hypersalivation kann vielfältige Ursachen haben. Neben Erkrankungen der Speicheldrüsen und der Mundhöhle können auch Vergiftungen, neurodegenerativen Erkrankungen (z.B. Parkinson-Krankheit und Amyotrophe Lateralsklerose) und psychische Ursachen eine vermehrte Speichelproduktion auslösen. Bei extremer Hypersalivation ist es möglich, den Speichelfluss mittels Botulinumtoxin, das in die Speicheldrüsen injiziert wird, abzuschwächen. Wir behandeln unsere Patienten Ultraschall gesteuert im Rahmen einer ambulanten Vorstellung in unserer Poliklinik.
Krokodilstränen-Phänomen
Warum heißen Krokodilstränen eigentlich Krokodilstränen? Öffnen Krokodile ihr Maul sehr weit, wie es bei der Nahrungs-aufnahme der Fall ist, wird Druck auf eine Drüse hinter dem Auge ausgeübt und es entstehen die so genannten Krokodilstränen. Weinen können Krokodile allerdings nicht! Die genannte Redensart beruht vielleicht auf einer naturwissenschaftlichen Enzyklopädie des französischen Mönches Bartholomaeus Anglicus aus dem 13. Jahrhundert. Der Mönch berichtet in seinem Werk, Krokodile würden, bevor sie einen Menschen auffräßen, deren Tod beweinen.
Seit dem Mittelalter ist dann die Umdeutung in Sagen weit verbreitet, wonach das Krokodil listigerweise wie ein kleines Kind weine und schluchze, um seine Opfer anzulocken und dann zu verschlingen. Die Vorstellung, das erbarmungslose Krokodil würde falsche Tränen vergießen, war so ein starkes Sinnbild, dass es die Literatur eroberte. Bis heute sagt man daher über Menschen, die Trauer und Betroffenheit nur vortäuschen, sie vergössen Krokodilstränen.
Nach der Heilung einer Lähmung des Gesichtsnervs (Nervus facialis) kommt es häufig zu einer diskreten, vom Patienten selbst manchmal nicht bemerkten vermehrten Tränensekretion beim Essen, das so genannte Krokodilstränen-Phänomen. Dies entsteht, wenn Sekretfasern, die der Gesichtsnerv eigentlich für die Speicheldrüse führt, im Rahmen der Heilung des Nervs "irrtümlich" in die Tränendrüse eingewachsen sind. Zur Behandlung von Krokodilstränen, die beim Essen salziger oder saurer Speisen oder schon bei deren Anblick störend auftreten können, kann durch Injektion von Botulinumtoxin in die Tränendrüse eine gezielte Verminderung der Tränenproduktion erreicht werden. Eine Injektion pro Jahr reicht meistens aus.
Neuropathische Schmerzen nach Halsoperationen
Bei Schmerzen, die durch starke Muskelanspannung, beispielsweise bei Patienten mit Dystonie und Spastik, entstehen, ist die Wirksamkeit von Botulinumtoxin gut belegt. Sie wird hauptsächlich durch eine Normalisierung muskulärer Hyperaktivität und durch eine Normalisierung übermäßiger Muskelspindelaktivität erklärt. Darüber hinaus hemmt Botulinumtoxin aber auch die Freisetzung von Substanz P und anderen Neurotransmittern, die in der Entstehung von Schmerzen anderer Qualitäten möglicherweise eine bedeutende Rolle spielen. Der Einsatz von Botulinumtoxin beispielsweise bei Kopfschmerzen ist aber erst nach Ausschöpfung von Standardtherapieverfahren in spezialisierten Zentren begründet. Wir bieten im Rahmen einer klinischen Studie die Behandlung so genannter neuropathischer Schmerzen nach Operationen im Kopf-Hals-Bereich mit Botulinumtoxin an.
Klinisch sind neuropathische Schmerzen, d. h. chronische Schmerzen nach Läsionen des Nervensystems, vor allem durch dumpfe, brennende Spontanschmerzen und einschießende Schmerzattacken charakterisiert. Circa 20 Prozent aller Patienten, die eine schmerztherapeutische Spezialeinrichtung aufsuchen, leiden unter ungenügend therapierten neuropathischen Schmerzen. Studien belegen, dass etwa ein Fünftel aller Patienten die operiert wurden, lang anhaltend, zum Teil lebenslang unter Nervenschmerzen leiden. Dabei können diese Schmerzen nach einem "leichten" Eingriff genauso chronifizieren wie nach einem "schweren". Auch Phantomschmerzen zählen zu den neuropathischen Schmerzen. Weitere Ursachen neuropathischer Schmerzen sind Virusinfektionen (z. B. Gürtelrose), Nervendegeneration (z. B. Vitaminmangel bei Alkoholismus, Diabetes mellitus) und die Einnahme nervenschädigender, giftiger Substanzen (z. B. bestimmte Medikamente).
Ansprechpartner
Direktor der Klinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde
Oberarzt,
Leiter Fazialis-Nerv-Zentrum Jena