Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten
Die Lippen-Kiefer-Gaumenspalten sind mit 10 bis 15 % weltweit die zweithäufigste Fehlbildung des Menschen. In Europa kommt eines von etwa 500 Babys mit einer solchen Spaltbildung zur Welt.
Viele (werdende) Eltern sehen sich erstmalig durch eine entsprechende Feststellung im Ultraschall bzw. die Geburt eines Kindes mit einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte mit diesem Thema konfrontiert und fühlen sich erst einmal uninformiert und hilflos. Durch die nachfolgenden Ausführungen möchten wir betroffenen Eltern und Angehörigen erste Informationen liefern und mögliche Ängste und Sorgen nehmen.
Begriffe
Unter dem Begriff Lippen-Kiefer-Gaumenspalten oder Lippen-Kiefer-Gaumen-Segelspalten (LKG-Spalten oder LKGS-Spalten) werden alle Spaltbildungen der Lippe (Lippenkerbe oder Lippenspalte), des Kiefers (Lippen-Kieferspalte) und des Gaumens (Gaumenspalte oder Gaumen-Segelspalte) zusammengefasst. Umgangssprachlich wird die Lippenspalte oft als Hasenscharte bzw. die Gaumenspalte als Wolfsrachen bezeichnet. Diese volkstümlichen Begriffe sind mit vielen unklaren, negativen und nicht zutreffenden Vorstellungen verbunden und sollten nicht mehr gebraucht werden.
Wie entstehen Lippen-Kiefer-Gaumenspalten und was sind die Ursachen?
In der frühen Schwangerschaft entwickeln sich Teile des Gesichts zunächst getrennt und verwachsen dann miteinander. Diese Verschmelzungsprozesse finden im Bereich der Nase, der Oberlippe bzw. des Oberkiefers zwischen der 5. und 7. Schwangerschaftswoche statt. Etwas später, zwischen der 10. und 12. Schwangerschaftswoche, vereinigen sich auch die einzelnen Teile des Gaumens. Erfolgen diese Entwicklungsschritte nicht oder unvollständig oder reißt das Gewebe wieder auf hat das eine Spalte zur Folge.
Die sehr verständliche Frage vieler Eltern, warum gerade ihr Kind betroffen ist, kann zumeist nicht beantwortet werden. Bisher ist nämlich keine einzelne Ursache für die Entstehung von Lippen-Kiefer-Gaumenspalten bekannt. Man vermutet, dass zur Ausbildung von Spalten verschiedene Faktoren zusammen kommen müssen. Neben "äußeren" Ursachen wie Stress, Mangelernährung oder die Einnahme von Genussmitteln und bestimmten Medikamenten scheinen die "inneren", d. h. genetischen Faktoren eine Rolle zu spielen. Hierfür spricht vor allem, dass bei etwa 25 % aller Spaltträger nahe und/oder entfernte Verwandte eine Lippen-Kiefer-Gaumenspalte aufweisen.
Welche Spaltformen gibt es?
Abhängig davon, wann in der Schwangerschaft eine Störung der Gesichtsentwicklung aufgetreten ist und wie schwerwiegend diese war, resultieren verschiedene Spaltformen (Spalttypen), wobei die Spalte einseitig oder beidseitig vorliegen kann. Bei etwa 20 % der Spaltbildungen handelt es sich um Lippenkerben, Lippenspalten oder Lippen-Kieferspalten. Rund 30 % sind isolierte Gaumenspalten. Mehr als 50 % der Spaltträger weisen komplette Lippen-Kiefer-Gaumenspalten (Kombination aus Lippen-Kieferspalte und Gaumenspalte) auf.
Wann und wie werden Lippen-Kiefer-Gaumenspalten diagnostiziert?
Insbesondere bei Kindern mit isolierten Gaumenspalten werden die Fehlbildungen erst mit der Geburt festgestellt. Kinder mit verdeckten (submukösen) Gaumenspalten werden oft erst beim Spracherwerb in den ersten Lebensjahren auffällig. Mit Hilfe moderner Ultraschallgeräte werden in Deutschland die meisten Lippen-Kiefer-Gaumenspalten jedoch bereits während der Schwangerschaft diagnostiziert. Deshalb beraten wir die Eltern zumeist schon vor der Geburt des Kindes gemeinsam mit dem behandelnden Geburtshelfer und Gynäkologen und erklären ihnen die umfassenden Behandlungsmöglichkeiten.
Wann und wie werden Lippen-Kiefer-Gaumenspalten behandelt?
Abhängig von der Schwere der Spaltbildung sind neben der Beeinflussung des Aussehens wichtige Funktionen wie Atmung, Schlucken, Sprechen und Hören gestört. Daher erfolgt die Behandlung dieser Patienten in enger Zusammenarbeit von Mund-Kiefer-Gesichtschirurgen, Kinderärzten, HNO-Ärzten, Kieferorthopäden, Zahnärzten, Logopäden und Psychologen, um sowohl ästhetisch als auch funktionell das bestmögliche Ergebnis zu erzielen und dem Betroffenen eine möglichst ungestörte physische und psychische Entwicklung zu ermöglichen. So wird auch bei ausgeprägten Spaltformen eine Normalisierung des Aussehens und der Funktionen bezüglich Atmung, Ernährung, Sprache und Gehör erreicht.
Die Behandlung sollte unbedingt an einem für diese Fehlbildungen spezialisierten Zentrum vorgenommen werden. Eines dieser Behandlungszentren befindet sich am Universitätsklinikum Jena, wo regelmäßig Operationen an Patienten mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalten durchgeführt werden und ein erfahrenes multiprofessionelles Team die Patienten bis zum Abschluss der Behandlung betreut.
Trotz der Vielfältigkeit der Spaltformen und ihrer Schweregrade ist der Behandlungsablauf weitgehend einheitlich. Die Reihenfolge und die Anzahl der Behandlungsschritte sind hierbei natürlich vom Ausgangsbefund abhängig. Nachfolgend ist kurz das Behandlungskonzept des Universitätsklinikums Jena dargestellt:
Behandlungsbeginn
Die erste Untersuchung des Kindes und die weiterführende Beratung der Eltern erfolgt direkt nach der Geburt. Hierzu stellen sich die Eltern gemeinsam mit ihrem Kind in unserer eigens dafür eingerichteten „Interdisziplinären Sprechstunde für Lippen-Kiefer-Gaumenspalten und kraniofaziale Fehlbildungen“ am Universitätsklinikum Jena vor, sobald es der Zustand der Mutter und des Kindes erlaubt. Wenn die Entbindung in der Klinik für Geburtshilfe des Universitätsklinikums Jena erfolgt, besuchen wir Mutter und Kind zwecks Untersuchung und Beratung noch auf der Entbindungsstation.
Gaumenplatte
Falls das Kind eine Gaumenspalte aufweist, wird kurz nach der Geburt ein Abdruck vom Gaumen des Babys gemacht, um in den folgenden Tagen die kieferorthopädische Frühbehandlung mittels so genannter Gaumenplatte, die zur Trennung von Mund- und Nasenraum dient, zu beginnen. Bis zum Verschluss des Gaumens wird die Platte regelmäßig kontrolliert. Danach ist sie nicht mehr notwendig.
Operativer Verschluss der Lippenspalte (Lippenspaltplastik)
Im Alter von 3 bis 4 Monaten erfolgt der Verschluss der Lippenspalte. Nicht nur bei kompletten Lippen-Kiefer-Gaumenspalten, sondern auch bei isolierten Lippenspalten, ist auf der entsprechenden Seite oft der Nasenflügel ebenfalls fehlgebildet und muss chirurgisch korrigiert werden. An unserem Behandlungszentrum wird dies gleichzeitig mit der Lippenspaltplastik durchgeführt. Endgültige Korrekturen an der Nase werden bewusst erst nach dem Wachstumsabschluss durchgeführt, um Wachstumsstörungen zu vermeiden. Ist nur die Lippe von der Spaltbildung betroffen, ist in der Regel nur diese eine Operation notwendig. In seltenen Fällen ist später noch eine kleine Korrekturoperation erforderlich. Die kleine Narbe, die durch den Lippenspaltverschluss im Bereich der Oberlippe entsteht, erreicht nach etwa einem Jahr ihr endgültiges Aussehen und wird dann weitestgehend unauffällig sein.
Operativer Verschluss der Gaumenspalte (Gaumenspaltplastik)
Bei der Gaumenspaltplastik wird eine Trennung des Mundraumes vom Nasenrachenraum geschaffen. Dies ist die Voraussetzung für eine ungehinderte Sprachentwicklung. Deshalb wird an unserem Behandlungszentrum der Gaumenspaltverschluss bereits im Alter von 10 bis 12 Monaten, also noch vor Beginn des Sprechenlernens, vorgenommen.
Trommelfellschnitt (Paracentese) und Einlage von Pauckenröhrchen
Kinder mit einer Gaumenspalte leiden oft unter einer Belüftungsstörung und immer wiederkehrenden Ergüssen des Mittelohrs. Unbehandelt kann dies zu einer Schwerhörigkeit führen. Um dies zu vermeiden, werden bei diesen Kindern oft ein kleiner Trommelfellschnitt und die Einlage von sogenannten Pauckenröhrchen vorgenommen, damit der Erguss abfließen kann. Dieser Eingriff wird von Ärzten der Abteilung für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde (HNO) durchgeführt und erfolgt je nach Dringlichkeit entweder zeitgleich mit der Lippenspaltplastik oder der Gaumenspaltplastik. Der zeitgleiche Eingriff dient dazu dem Kind eine zusätzliche Narkose zu ersparen.
Korrekturoperationen vor der Einschulung
Das Ziel unseres Behandlungskonzepts ist, bis zur Einschulung des Kindes ein normales Aussehen und eine ungestörte Sprachentwicklung zu erreichen.
Die operative Behandlung von Lippen-Kiefer-Gaumenspalten hat sich in den letzten Jahren deutlich weiterentwickelt, so dass heute Korrekturoperationen viel seltener erforderlich sind. Trotzdem können im Einzelfall bestimmte Korrekturoperationen vor der Einschulung notwendig werden:
1. Sprachverbessernde Operation (Velopharyngeoplastik, VPP)
Bei einem geringen Teil der Kinder (3 - 5 %) wird trotz erfolgtem Gaumenspaltverschluss und nachfolgender Sprachtherapie (Logopädie) keine vollständige Normalisierung der Sprache erreicht. Verbleibt ein sogenanntes offenes Näseln (Rhinophonia aperta), kann dies Folge einer mangelnden Abschlussfunktion eines zu kurzen Gaumens gegen den Rachen sein. In diesen Fällen ist eine sprachverbessernde Operation zur Behebung dieser Sprechstörung empfehlenswert. Hierbei wird der Gaumen durch eine spezielle Operationstechnik verlängert und durch eine Gewebebrücke mit der Rachenhinterwand verbunden. Die Atemfunktion wird dadurch nicht beeinträchtigt. Der Zeitpunkt dieser Operation wird von den Ärzten der Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie festgelegt und sollte etwa 1 bis 2 Jahre vor der Einschulung liegen.
2. Nasenstegverlängerung (Nasenstegplastik, Columellaplastik)
Insbesondere bei Kindern mit einer schweren doppelseitigen Lippen-Kiefer-Gaumenspalte verbleibt nach dem Lippenspaltverschluss gegebenenfalls ein zu kurzer Nasensteg mit einer Abflachung der Nasenspitze. Resultiert hieraus eine erhebliche ästhetische Störung, wird etwa 1 Jahr vor der Einschulung in enger Absprache mit den Eltern eine Nasenstegverlängerung mit Aufrichtung der Nasenspitze vorgenommen. Hierbei wird über die bereits vorhanden Narben im Bereich der ehemaligen Lippenspalte operiert, so dass keine neuen Narben entstehen.
Operativer Verschluss der Kieferspalte (Kieferspaltosteoplastik)
Bei bestimmten Spaltformen ist es notwendig, Knochen in den Kieferspaltbereich zu transplantieren, damit der bleibende seitliche Schneidezahn und/oder Eckzahn durchbrechen und kieferorthopädisch in diese Lücke eingeordnet werden kann. Abhängig von der jeweiligen Zahnentwicklung erfolgt dieser Eingriff in enger Absprache mit dem behandelnden Kieferorthopäden zwischen dem 8. und 11. Lebensjahr. Eine solche Kieferspaltosteoplastik ist nämlich nur sinnvoll, wenn bald danach kieferorthopädisch ein Zahn in diese Lücke hineinbewegt wird. Bei einigen Patienten wird die Kieferspaltosteoplastik daher auch erst nach dem Wachstumsabschluss durchgeführt (z. B. wenn der bleibende seitliche Schneidezahn nicht angelegt ist und später durch ein Zahnimplantat ersetzt werden muss).
Endgültige Korrekturoperationen nach dem Wachstumsabschluss / Erwachsenentherapie
In der Regel ist zwischen dem 16. und 18. Lebensjahr das Körperwachstum abgeschlossen. Bis zu diesem Zeitpunkt ist bei den meisten Patienten mit einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte auch die Behandlung abgeschlossen. Jedoch können in einigen Fällen trotz gut verlaufender Erstoperationen aufgrund nicht zufriedenstellender Ergebnisse bestimmte Korrekturoperationen nach dem Wachstumsabschluss erforderlich sein. Diese sollten erst nach dem 16. bis 18. Lebensjahr durchgeführt werden, um eine wachstumsbedingte Veränderung des Operationsergebnisses zu vermeiden:
1. Nasenkorrektur (Septorhinoplastik)
Insbesondere bei Patienten mit einer einseitigen Lippen-Kiefer-Gaumenspalte kann es im Laufe des Wachstums zu einer asymmetrischen Entwicklung der äußeren und inneren Nase kommen. Wenn hierdurch eine erhebliche Nasenatemstörungen und/oder eine deutliche Beeinträchtigung des Aussehens vorliegt, erfolgt oft eine sogenannte Septorhinoplastik. Hierbei werden neben der ästhetischen Korrektur der äußeren Nase zur Beseitigung einer Nasenatemstörung die Nasenscheidewand begradigt und zu große Nasenmuscheln verkleinert.
2. Lippenkorrektur
Bei einigen Patienten kann es durch eine Wundheilungsstörung im Rahmen der ersten Operation oder wachstumsbedingt zu ästhetisch störenden Narben und deutlichen Asymmetrien im Bereich der Oberlippe kommen. Diese Beeinträchtigungen können ebenfalls chirurgisch korrigiert werden, wobei auch hier die besten Operationsergebnisse nach dem Wachstumsabschluss erreicht werden.
3. Kieferverlagernde Operation (Dysgnathieoperation) Link
Insbesondere bei den schweren doppelseitigen Lippen-Kiefer-Gaumenspalten kann es zu einer spaltbedingten Wachstumstörung des Ober- und Unterkiefers kommen, die durch eine alleinige kieferorthopädische Behandlung nicht korrigiert werden kann. Man spricht dann von einer Dysgnathie. In diesen Fällen ist es notwendig operativ die Ober- und Unterkieferposition zu verändern, um eine normale Kiefer- und Zahnstellung sowie eine ästhetische Verbesserung der Gesichtsproportionen zu erreichen.
4. Zahnärztliche Implantation Link
Häufig kommt es bei Patienten mit einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte zu einer Nichtanlage der seitlichen oberen Schneidezähne. Die entsprechenden Zahnlücken können mit sogenannten dentalen Implantaten (künstliche Zahnwurzeln), auf die eine Zahnkrone gesetzt wird versorgt werden, um die Ästhetik und Kaufunktion wiederherzustellen.
Während der gesamten Behandlungszeit werden die Patienten mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalten in einer eigens dafür eingerichteten Sprechstunde am Universitätsklinikum Jena betreut. Im Rahmen dieser Sprechstunde werden die Patienten durch die Abteilung für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, die Abteilung für Kieferorthopädie und die Abteilung für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde bzw. Phoniatrie und Pädaudiologie regelmäßig untersucht und hinsichtlich der weiteren Maßnahmen beraten. Die Betreuung setzt sich bis zum Ende des Wachstums fort und endet in der Regel im frühen Erwachsenenalter.
Unsere Sprechstunde für Lippen-Kiefer-Gaumenspalten findet mittwochs von 08.00 Uhr bis 12:00 Uhr statt. Terminvereinbarung unter: Tel. 03641/9-323650