Ansprechpartner: Dr. rer. biol. hum. Holger Muggenthaler, Prof. Dr. med. Gita Mall
Die Bedeutung der Todeszeitbestimmung in der rechtsmedizinischen Praxis liegt vor allem in der Begutachtung von Tötungsdelikten. Denn bei Tötungsdelikten entspricht der Todeszeitpunkt dem mutmaßlichen Tatzeitpunkt. Dessen Kenntnis ist bereits während der laufenden Ermittlungen essentiell für die Überprüfung von Alibiangaben Verdächtiger und während einer späteren Gerichtsverhandlung wichtig für die Tatrekonstruktion.
Die Todeszeitbestimmung in der frühen postmortalen Phase setzt sich aus der Beurteilung zahlreicher Phänomene in ihrem zeitlichen Verlauf zusammen, wie:
- Ausprägung, Wegdrückbarkeit und Umlagerbarkeit der Leichenflecke
- Eintritt, Ausprägung, Lösung der Leichenstarre
- mechanische Erregbarkeit der Muskulatur
- elektrische Erregbarkeit der Muskulatur
- Abkühlung der Leiche
In der späten postmortalen Phase kann eine Todeszeitschätzung an den folgenden Phänomenen vorgenommen werden:
- Art und Ausprägung der späten Leichenveränderungen
- Besiedlung durch Insekten und deren Entwicklungsstadien (Forensische Entomologie)
Die Todeszeitschätzung ist - neben dem Angebot im Rahmen der Dienstleistung - ein Forschungsschwerpunkt des Institutes für Rechtsmedizin.
Temperaturgestützte Todeszeitschätzung
In Jena wird neben der allgemein eingeführten Methode nach Henßge (Henßge-Nomogramm) ein neues Verfahren zur temperaturgestützten Todeszeitschätzung verwandt. Die Henßgesche Methode basiert auf einem sog. empirischen Modellansatz, d.h. experimentelle Abkühlungskurven werden durch ad-hoc gewählte analytische Formeln angepasst. Empirische Modelle haben den Vorteil, dass sie einfach und schnell anwendbar sind, aber die erheblichen Nachteile, dass sie valide nur auf die auch experimentell untersuchten Standard-Abkühlungssituationen anwendbar sind und dass ihre Parameter als reine Kurvenanpassungsparameter keinen Bezug zur Physik der Abkühlung aufweisen. Demgegenüber verfolgt das Verfahren aus Jena einen sog. physikalischen Modellansatz, d.h. der Abkühlungsprozess der Leiche wird auf der Basis der pysikalischen Gesetze der Wärmeübertragung modelliert. Physikalische Modelle haben den Nachteil, dass sie schwierig und zeitintensiv in der Anwendung sind, aber die Vorteile, dass sie valider als empirische Modelle sind, dass ihre Parameter pysikalisch interpretierbar sind und dass sie auch auf (realistische) Nicht-Standard-Abkühlungssituationen anwendbar sind. Im patentierten Verfahren wird die postmortale Abkühlung des menschlichen Körpers mit Hilfe der Methode der Finiten Elemente modelliert. Durch Anwendung dieses in den Ingenieurwissenschaften weit verbreiteten Verfahrens kann die Geometrie des menschlichen Körpers angepasst werden. Neben den verschiedenen Gewebskompartimenten mit ihren unterschiedlichen thermischen Materialeigenschaften können fallspezifisch auch Bekleidung und Bedeckung berücksichtigt werden. Das Anfangstemperaturfeld kann inhomogen mit einem Gradienten vom Körperkern zur Körperschale vorgegeben werden. Als Randbedingungen können Konduktion, Konvektion (frei - bei ruhender Luft, erzwungen - bei Luftzug, Wind) sowie Wärmestrahlung (Abstrahlung und Einstrahlung) simuliertwerden. Zusätzlich simuliert das Modell eine Wärmeproduktion in der Phase des intermediären Lebens (Zeitspanne zwischen Todeseintritt und sog. biologischen Tod als dem Tod der letzten Zelle im menschlichen Körper).
Im Rahmen eines durch die DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft) finanzierten Projektes wurden in den Jahren 2003 bis 2007 Abkühlungsversuche unter kontrollierten Bedingungen in einer Klimasimulationskammer durch geführt. Diese insgesamt 84 Abkühlungsversuche repräsentieren die ersten unter kontrollierten Bedingungen gewonnenen Daten ihrer Art und umfassen eine große Spanne an Umgebungstemperaturen. Über eine Datenbank kann fallspezifisch nach Vergleichfällen gesucht werden.
Letztlich erfolgt die Todeszeitschätzung aus der Leichenabkühlung in unseren Gutachten nach drei verschiedenen, auch auf unterschiedlichen wissenschaftlichen Ansätzen beruhenden, Methoden, um eine größt mögliche Sicherheit für dei strafrechtliche Bewertung zu bieten:
1. Henssge-Verfahren als eingeführtes Verfahren mit empirischem Modellansatz
2. Finite-Elemente-Modell als neues Verfahren mit physikalischem Modellansatz
3. Plausibilitätsabgleich mit einer Datenbank mit unter kontrollierten Bedingungen gewonnenen Daten